Schöne neue Wirtschaft

In Garagen, in denen junge Technikfreaks bastelten fingen sie an, die Erfolgsgeschichten der IT-Branche. Große Erwartungen waren mit ihnen verbunden, nicht zuletzt auf traumhafte Gewinne. Bis die sprichwörtliche Blase platzte. Was blieb – ein Scherbenhaufen?

Vor 30 Jahren, als Computer so groß wie Kleiderschränke waren und selbst BrancheninsiderInnen über die Idee mit „Heimcomputern“ Geld zu verdienen lachten, hätte niemand erträumt, dass einmal in fast jedem Haushalt ein solcher stehen würde. Mitte der 1990er Jahre, als die Verbreitung des Internets richtig durchstartete, begannen auch die Börsengurus Blut zu lecken – hier war Geschäft zu machen.

Die Idee dahinter: Im postkapitalistischen Zeitalter verliere Warenproduktion ihre Bedeutung, Information sei die Währung der neuen Zeit. Nicht mehr künstliche Verknappung, sondern maximale Verbreitung würde den Wert und Preis der Informationsgüter bestimmen – hängen einmal alle am Netz, entstehe maximaler Nutzen, ergo maximaler Gewinn. Geboren war das Kind, genannt New Economy.

Die Dotcom-Blase. In der Hoffnung auf große Gewinne investierten AnlegerInnen Milliarden in neue IT-Unternehmen. Die Börsenkurse stiegen 1999 sprunghaft an, der NASDAQ Index sprang innerhalb eines Jahres von 2000 auf 5000 Punkte. Im März 2000 brach der Markt zusammen. Das reale Kapital der Unternehmen stand in keinem Verhältnis zu ihrem Börsenwert, zudem waren keine Gewinne in Sicht. GroßanlegerInnen zogen ihr Kapital ab, KleinanlegerInnen verkauften in Panik. Die Kurse brachen ein – allein in der Telekombranche wurden unvorstellbare 3800 Milliarden Dollar vernichtet, 500 000 Menschen verloren ihre Arbeit berichtete Financial Times 2001. Ruinierte KleinanlegerInnen, Schließungen von Unternehmen und massenhafte Entlassungen von ArbeiterInnen waren die Folge. Die Blase war geplatzt.

Was war passiert? Der Glaube elementare Gesetze kapitalistischer ö–konomie außer Kraft setzen zu können war gescheitert. Wie Reinhard Blomert formuliert, war die New Economy „im Kern kriminell […und] brachte wenigen Insidern hohe Gewinne, Millionen von Anlegern dagegen verloren durch das Platzen der Blase ihr Geld, ihre Renten und zwei Millionen Arbeiter und Angestellte ihre Arbeitsplätze.“ Hätte man ein wenig bei Marx nachgelesen, wäre schnell klar geworden, dass Mehrwertschöpfung ohne gleichzeitige Hierarchisierung von Besitzenden und Nichtbesitzenden nicht möglich ist. Die vermeintliche Autonomisierung des arbeitenden Subjekts zur Ich-AG und die Hoffnung auf Gewinnoptimierung für alle wurden zur zynischen Ideologie. Diese Art von „digital-liberalistischer, arroganter und triumphalistischer Weltanschauung […] ging bankrott, weil das Modell eines perfekten freien Marktes eine praktische und theoretische Lüge ist“, so der Autor und Philosoph Franco Berardi. SiegerInnen blieben die MonopolkapitalistInnen, die sich den Markt sicherten und aufteilten – ganz nach den klassischen Grundsätzen der Old Economy. Oder wie Berardi es formuliert: „Der Neoliberalismus brachte seine eigene Negation hervor, und die, die seine am meisten begeisterten UnterstützerInnen waren, wurden seine marginalisierten Opfer.“

Neue Spielräume ? Trotz einer Erholung der Branche – mittlerweile sind in den USA mehr IT-SpezialistInnen angestellt als 2001 – änderte sich ihre Struktur: Gefragt sind hochspezialisierte Fachkräfte, die VerliererInnen der Branche sehen sich immer mehr der Prekärisierung ausgesetzt – im Datenverarbeitungsbereich liegt die Selbstständigenquote bei 50%. Laut WKO liegt der Anteil der Kleinunternehmen in der IT-Branche über 90%, Information und Consulting machen 21,4% der Unternehmensgründungen aus – die Ideologie der Ich-AG lebt. Ob der Optimismus gerechtfertigt ist, dass diese ArbeiterInnen durch die massiven Markteffekte ein neues Proletariat bilden ist fraglich. So bleibt es letzten Endes eine politische Frage, die Situation zu verändern.

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien und Konstanz

Weblinks:

http://eipcp.net/transversal/1203/bifo/de
http://www.wired.com/wired/5.09/newrules_pr.html
http://www.bpb.de/files/62G035.pdf

Copyright 2006 by Timon Jakli,
Veröffentlicht in PROGRESS 6/06, S. 22

34 Hektar Widerstand

Seit 35 Jahren besetzt ein bunter Mix aus Hippies, AnarchistInnen und Alternativen ein ehemaliges Militärgelände im Herzen Kopenhagens. Der Freistaat Christiania – eine Geschichte über Widerstand, Liberalismus und Integration.

Timon Jakli

Hippietum in Kopenhagen zwischen TouristInneninvasion und Polizeirazzia
Hippietum in Kopenhagen zwischen TouristInneninvasion und Polizeirazzia

Vormittags, wenn die Sonne auch die letzten Menschen aus den Betten getrieben hat, bevölkern sie die Straßen Christianias: Die Kamera vor den Bauch geschnallt und das Rucksäckchen gepackt, schlendern unzählige TouristInnen durch den Freistaat, um den „progressiven und freisinnigen dänischen Lebensstil“, so die Homepage der ChristianitterInnen, zu besichtigen. Grotesk mutet es an, wenn die BewohnerInnen fotografiert werden wie Tiere im Zoo, jedem/r sein/ihr Hippie für zu Hause – wenigstens am Photo. Bis wieder einmal jemand laut „no photo !“ durch die Straßen schreit und böse dreinschaut – dann werden die Kameras schuldbewusst weggepackt, für ein paar Minuten.
Diese Episode erzählt wohl mehr über die dänische Gesellschaft und die Integrationsfähigkeit des Kapitalismus, als es den BewohnerInnen des Freistaats lieb ist.

Die Vorgeschichte. Als 1971 Hippies und HausbesetzerInnen ein verlassenes Militärgelände im Stadtteil Christianshavn in Kopenhagen besetzten, sorgte dies in linksalternativen Kreisen und Zeitungen für Aufruhr. Eine große Zahl Menschen ließ sich auf dem Gebiet nieder und es entstand ein Staat mit Grassroot-Demokratie. Rasch kam es zu Konflikten mit der dänischen Regierung. In der ersten Phase (bis Ende der 70er) ging es vor allem um das Existenzrecht des Freistaates, von Regierungsseite wurde wiederholt versucht, das Gelände zu räumen. Anfang der 1980er Jahre begann die dänische Regierung, Pläne zu entwerfen, Christiania als Versuchsstadt unter Selbstverwaltung bestehen zu lassen, ein Prozess der bis zum Beginn der 1990er Jahre andauerte. Die Hauptkonfliktlinien verliefen in dieser Zeit um den Drogenkonsum/handel sowie Abgabenregelungen. Zum 20 jährigen Bestehen des Freistaates stand im wesentlichen eine Rahmenvereinbarung mit dem Staat Dänemark, die in den 90er Jahren weiter ausverhandelt wurde – die Institutionalisierung Christianias schritt voran. Die bürgerlich-konservative Regierung Dänemarks fährt seit 2001 einen härteren Kurs, indem sie beim Haschischbesitz mit großen Polizeiaktionen seit 2003 hart durchgreift sowie Normalisierungspläne für die Mietstruktur des Geländes entwickelt.

Integration und Institutionalisierung. Die Geschichte Christianas illustriert deutlich eine Tendenz spätkapitalistischer Gesellschaften: Die totale Integration widerständiger Elemente. Dänemark als klassisch liberaler Staat, geprägt von den Revolutionen des 18. Jahrhunderts und ihrer Idee bürgerlicher Freiheit, hat Individualität als großen Leitgedanken – nicht umsonst macht sich Design in allen öffentlichen und privaten Bereichen als Dekadenzerscheinung breit. Die Pseudoindividualitäten klopfen an alle Türen. Und als ebensolche wurde Christiana in das System integriert, fungiert als Designelement einer liberalen Gesellschaft, die durch das Zulassen einer Hippiekolonie im Herzen der Stadt ihre Offenheit zeigt und sich dadurch gleichzeitig als letztgültiger Garant der Freiheit weiter zementiert. Als eine von vielen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung innerhalb einer liberalen Gesellschaft, steht Alternativität genau so im Warenregal Dänemarks wie Tivoli und Tierpark. Dass darüber hinaus der politische Anspruch des Freistaates außen vor bleibt und sich in Kiffen und Kunsthandwerk erschöpft, ist Nebensache.

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien

Weblinks:
http://www.christiania.org

Copyright 2006 by Timon Jakli,
Veröffentlicht in PROGRESS 5/06, S. 15

Mit Blaulicht und Folgetonhorn

Das semantische Feld für Hilfeleistung und Rettungsdienst ist stark besetzt: Das Rote Kreuz ist für jedes Kind ein Begriff. Vor 125 Jahren, nämlich 1880 wurde die österreichische Rot-Kreuz-Gesellschaft gegründet. Ein Blick auf Vergangenheit und Gegenwart. Timon Jakli

Zum 125jährigen Bestehen des österreichischen Roten Kreuzes (ö–RK) wird eine Erfolgsgeschichte erzählt[i], getragen von vielen HelferInnen in der Tradition Henri Dunants. Konstruiert wird diese Erzählung entlang der sieben Grundsätze „Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit, Universalität“. Diese werden im Folgenden kritisch beleuchtet.

Immer neutral ?

Auch wenn sich das ö–RK daran nicht erinnern will, war es um seine Grundsätze nicht immer gut bestellt. So bezog das Rote Kreuz im Bürgerkrieg von 1934 klar Stellung auf katholisch-konservativer Seite. Die verwundeten und kämpfenden Arbeiter, Opfer des Kampfes gegen den Austrofaschismus, wurden blutend in den Schlachtruinen liegen gelassen. Für sie formierte sich auf sozialistischer Seite der Arbeiter Samariter Bund.[ii]

Auch international erscheint die Neutralität brüchig: Der in Israel seit 1930 tätigen Hilfsgesellschaft Magen David Adom (MDA) verweigert die Internationale Rote Kreuz Gesellschaft (IKRK) die Aufnahme. Die absurde Begründung dafür lautet, es würden keine Schutzzeichen mit nationalem oder religiösem Bezug anerkannt. Im Gegensatz zu den Zeichen arabischer Ländern wird das Schutzzeichen des MDA (der rote Davidsstern) vom IKRK nicht akzeptiert. Ausnahmen für Rote-Halbmond-Gesellschaften wurden jedoch sehr wohl gemacht.

Die Sache mit der Unabhängigkeit…

Von der Tagespolitik ist das ö–RK lange nicht so unabhängig, wie es vorgibt. In der Besetzung der Vereinsstruktur dominiert klar die ö–VP, was bei Präsident Fredy Mayer (20 Jahre ö–VP LAbg. in Vorarlberg) beginnt und sich durch die neun Landesverbände zieht.

Unter der schwarz-blauen Bundesregierung wurde Mayer als Präsident der Zivildienstreformkommission eingesetzt und einer Gesellschaft des ö–RK wurde die Zuteilung und Verwaltung von Zivildienstleistenden übertragen. Letzteres wurde vom Vfgh als unrecht befunden, da hier eine staatliche Kernkompetenz in abhängige, privatwirtschaftliche Hand delegiert wurde.

Zuletzt positionierte sich das Rote Kreuz durch die Verleihung des „Humanitätspreises der Heinrich Treichl Stiftung“ an Hans Dichand politisch eindeutig im konservativen Lager.

Und dann waren da noch die Zivis…

Nicht nur, dass das ö–RK durch die Ausbeutung der Zivildiener Geld verdient, erwies sich das Rote Kreuz als vehementester Gegner einer Zivildienstverkürzung und legte mit einer Forderung nach einem verpflichtenden Sozialdienst auch für Frauen nach. Die finanzielle und arbeitsrechtliche Ausbeutung der Zivildiener stellt dem Roten Kreuz und seinem Diktum von Freiwilligkeit kein gutes Zeugnis aus.

öœber dies sollte jedoch nicht die Leistung der vielen haupt-, ehrenamtlichen und zivildienstleistenden Mitarbeiter des Roten Kreuzes vergessen werden, die trotz der widrigen strukturellen Gegebenheiten im konkreten Einsatz und auf der „untersten“ Ebene der Organisation oft großartiges Leisten.

[i] Zum Beispiel unter: http://125.roteskreuz.at

[ii] Speziell dieses Feld stellt ein Forschungsdesiderat dar. Siehe dazu PEBALL, Kurt: Die Kämpfe in Wien im Februar 1934. Wien, 1978. Zur problematischen Rolle des Roten Kreuz im 2. Weltkrieg vgl. BIEGE, Bernd: Helfer unter Hitler. Das Rote Kreuz im Dritten Reich. München, 2000.

Text: Copyright 2005 von Timon Jakli
Veröffentlicht in UNIQUE 06/05

Ein Kuckuck im kakanischen Nest

Dreimal entdeckt und wieder vergessen, und das innerhalb von hundert Jahren – eine ganz beachtliche Bilanz für einen Autor und sein Werk. Eine Annäherung an einen Unangenehmen der österreichischen Literatur, an Albert Drach, dessen Tod sich dieses Jahr zum zehnten Mal jährt. Timon Jakli

Es ist bemerkenswert, welche Wellen die Rezeption des Werkes von Albert Drach in der jüngsten Literaturgeschichte schlägt. Als seine Bücher zu Beginn der 1960er Jahre entdeckt wurden schaffte er den Durchbruch, endlich ein über die NS-Zeit schreibender ö–sterreicher, seine Bücher wurden neu aufgelegt – und es wurde wieder still um ihn. Dann Ende der 1980er machte ein Zeitungsartikel auf ihn aufmerksam, die literarische ö–ffentlichkeit nahm ihn wieder wahr. Prompt folgte 1988 die Vergabe des Büchnerpreises an den unbekannten Außenseiterautor Albert Drach. Wieder wurden seine Werke neu aufgelegt, diesmal bei Hanser – und es wurde wieder still um ihn. Endlich zu seinem 100. Geburtstag wurde Drach wieder geehrt, diesmal schon posthum, und für kurze Zeit stand er im Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Das war vor mittlerweile drei Jahren, eine neue Werksausgabe bei Zsolnay wurde präsentiert – und wieder wurde es still um ihn.
Dieses doch bemerkenswerte Auf und Ab von Vergessen und Entdecken liefert doch einigen Erklärungsbedarf.

Der Kuckuck im Vogelnest

Da die meisten Literaturgeschichten bestenfalls den Namen Drachs verzeichnen, sei zu seinem Leben folgendes gesagt: 1902 wurde Albert Drach als Sohn jüdischer Eltern in Mödling bei Wien geboren. Er absolvierte ein juristisches Studium, praktizierte als Anwalt und war schon früh als Schriftsteller tätig. Nachdem sich ö–sterreich an Deutschland angeschlossen hatte, floh Drach Ende 1938 über Jugoslawien und Italien nach Frankreich. Dort wurde er vom Vichy Regime in mehreren Anhaltelagern interniert und sollte schließlich an die Nationalsozialisten ausgeliefert werden. Drach gelang es durch eine wilde Kapriole (die am besten selbst in „Unsentimentale Reise“ nachzulesen ist) zu entkommen und er nistete sich in einem kleinen französischen Dorf ein – als Kuckuck im feindlichen Nest. Nach dem Krieg kehrte er nach Mödling zurück. Er stritt mit der Republik erbittert um sein arisiertes Heim – und gewann (im Gegensatz zu unzähligen anderen Opfern). Wieder nistete er sich ein, auch diesmal als Fremdkörper, in einer Gesellschaft die ihr nazistisches Gedankengut gerne mal latent beibehält. Im „Drach-Hof“ lebte und arbeitete Albert Drach zusammen mit seiner Frau Gerty bis zu seinem Tod 1995.

Seine Erlebnisse während der NS-Zeit und auf der Flucht verarbeitete Drach in seine Romane „ZZ – Das ist die Zwischenzeit“ und „Unsentimentale Reise“. Die oft als autobiographisch bezeichneten Romane gehen jedoch weit über eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte hinweg. Ironisch wird hier eine Kunstfigur stilisiert, anhand derer Welt und Gesellschaft ausgelotet werden (und die in „Unsentimentale Reise“ bezeichnenderweise den Namen Peter Kucku bekommt). Durch die ironische Brechung wird die Erfahrung reflexiv weitergedacht.

Der rebellische Kakanier

Ist von den Werken Albert Drachs die Rede, werden sie schnell als Kuriosa in eine Ecke gestellt – sein Protokollstil, sein juristisches Amtsdeutsch – all diese charmanten öœberbleibsel unseres schönen, alten kaiserlichen ö–sterreichs machen einen echten Drach aus. Damit wäre die kritische Arbeit daran auch erledigt, der Weg ins Vergessen ist geebnet.
Allein dieser Umgang mit Sprache zeugt vom Zustand unserer Gesellschaft. „Geschichte tangiert die Sprache nicht nur, sondern ereignet sich mitten in ihr“ schrieb Adorno in seinen Minima Moralia. Weiter: „Die Simplifizierung jedoch, die nicht bloß vom Marktinteresse, sondern von triftigen politische Motiven und schließlich vom geschichtlichen Stand der Sprache selber suggeriert wird, überwindet nicht sowohl die Nuance, als dass sie deren Verfall tyrannisch befördert.“ (Adorno, Minima Moralia, 2003. S. 250f.)
Es ist wenig wahrscheinlich, dass Albert Drach beim Schreiben seiner Werke Adorno bewusst wahrgenommen hat, ebenso wenig, dass Adorno Drach rezipierte. Trotzdem findet sich in Drachs Werk obenstehender Befund umgesetzt. Meisterhaft verwendet Drach in seinen Werken die totale Kanzleisprache Kakaniens und treibt ihre öœberstrukturiertheit immer weiter und weiter, „bis sie aus der subjektiven Abschattung umschlägt in die reine spezifische Bestimmung des Gegenstandes“ (Ebd., S. 252). Das Bestehen auf dem Detail wird so weit getrieben, dass es zu einer ironischen Bestimmung der Wirklichkeit ex negativo wird.
Dieses Verfahren führt Drach in „Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum“ und in „Untersuchungen an Mädeln“ auf der inhaltlichen Ebene weiter. In beiden Fällen sind die Hauptpersonen Angeklagte und die Figuren werden in den „Protokollen“ ex negativo gezeichnet: je mehr belastende Beweise und Indizien sich gegen die Angeklagten ansammeln, desto mehr wird die Unschuld der Angeklagten und die Korrumpiertheit der sie umgebenden Welt deutlich.

Dummheit als Makel

Doch damit ließ es Drach nicht bewenden. Immer war er überzeugt, durch seine Romane und Dramen auf die Menschen wirken zu können. Zu Zeiten, als noch Dramen von ihm aufgeführt wurden (so sein zu Unrecht vergessenes „Satansspiel vom göttlichen Marquis de Sade“), hielt er bisweilen im Anschluss daran kurze Ansprachen um dem Publikum verständlich zu machen, was es daraus lernen könnte. Nicht nur das, meldete er sich auch in der ö–ffentlichkeit gerne zur Interpretation seiner Werke zu Wort und ließ sich dabei nicht gerne ins Wort pfuschen. Legendär die Episode, als Paul Kruntorad konstatierte, Drach sei von Herzmanovsky-Orlando beeinflusst. Stehenden Fußes verklagte Drach ihn – und gewann. Dieses gesellschaftliche Engagement, das erbitterte Festhalten am Veränderungswillen machte es leicht, Drach als lebenden Anachronismus fortzuschieben.
Wenn Albert Drach Dummheit als den größten menschlichen Makel kritisierte, lag er damit vielleicht gar nicht so falsch. Für ihn war klar, dass die Dummheit der Menschen, nicht hinsehen zu wollen, allem öœbel – wofür der Nazismus stand und steht – Tür und Tor öffnet. Hitler war für ihn der Höhepunkt der Dummheit, er desavouiert ihn als burlesken Kasperl, als lächerliches Theater einer lächerlich gewordenen Welt.
Greift diese Erklärung auch zu kurz, um Nazismus und die Grausamkeit kapitalistischer Marktlogik zu fassen, so ist sie doch eine Erklärung für das auffällige Vergessenwollen gegenüber dem großen Autor Albert Drach. Den Dummen fällt es leichter, das Unangenehme beiseite zu schieben, als sich dem eigenen Unvermögen zu stellen und insofern ist Drach auch heute – gerade für ö–sterreich – hochaktuell.

Copyright 2005 by Timon Jakli,
Veröffentlicht in UNIQUE 04/05

Gott, der Kapitalist

Der alte Papst ist von uns gegangen, schon ist ein neuer Herr über die Christenheit gewählt. öœber Kontinuitäten, Theologen und Antikommunisten schreibt Timon Jakli

Nichtsahnend rufe ich an einem Dienstagabend die Internetseite des STANDARD auf, da springt mir in geschmackvoll-grellrosaner Schrift „Habemus Papam“ entgegen, daneben eine süßlich-stilisierte Sixtinische Kapelle aus der rosa Rauch aufsteigt. Wir haben also einen neuen Papst.

Wohl selten zuvor wurde ein Papstwechsel medial so inszeniert wie der Tod Karol Wojitylas und die darauf folgende Wahl Joseph Ratzingers zum Papst. Theologisch und politisch griff Mann allerdings auf Altbewährtes zurück.

Der „Grundirrtum des Sozialismus“

Theologisch zeichnete sich das Pontifikat Wojitylas (geb. 1920 in Polen; Papst seit 1978) durch radikal konservative Theologie aus (man/frau denke an seine Ablehnung von Geburtenkontrolle, Abtreibung, etc.). Seine politische Brisanz erhielt es durch den passionierten Antikommunismus Wojitylas, der sich in die Reihe der Päpste als Bekämpfer des Marxismus stellte. Bekannt ist seine tragende Rolle bei der Gründung der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc und die aktive Unterstützung antikommunistischer Aktivitäten in Polen.

Nach dem Fall des Kommunismus zog Wojityla Bilanz über Kapitalismus, Kommunismus und Arbeiterfrage. In Anlehnung an die Enzyklika Rerum Novarum von Leo XII. (der 1887 den Katholiken verbot die Sozialisten zu wählen[i]) veröffentlichte Johannes Paul II. im Jahr 1991 die Enzyklika Centesimus Annus. Die Enzyklika nimmt die Arbeiterfrage zur Kenntnis, eignet sich dabei marxsche Terminologie an, um gleich darauf mit der „Marxistischen Ideologie“ abzurechnen.

Die Argumentation setzt an, indem sie die „Würde der Arbeit“ postuliert, ihre Notwendigkeit und Unverletzbarkeit, als Bedingung dafür aber sofort zum zentralen Punkt fortschreitet: zum „Recht auf Privateigentum“, dem zentrale Bedeutung für das menschliche Glück zugemessen wird. Es wird festgestellt, dass „der Grundirrtum des Sozialismus anthropologischer Natur ist. Er betrachtet den einzelnen Menschen lediglich als ein Instrument und Molekül des gesellschaftlichen Organismus, so daß das Wohl des einzelnen dem Ablauf des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Mechanismus völlig untergeordnet wird“.[ii] Der Grund dafür liegt im Atheismus, der keine Würdigung des Individuums zulasse. Auf dieser Basis wird auch rasch noch die von Marx analysierte Entfremdung widerlegt, die es so nicht gebe, sondern die vielmehr eine Entfremdung von Gott sei.

Kapitalismus macht selig

Der Klassenkampf achte die Menschenwürde nicht, da er „nicht mehr das Gesamtwohl der Gesellschaft, vielmehr ausschließlich das Sonderinteresse einer Gruppe im Auge hat“. Was folgt ist ein Bekenntnis zum freien Markt, da gerade der Aufbau von demokratischen Gesellschaften unter marktwirtschaftlichen Prinzipien dem Kommunismus sein revolutionäres Potential entziehe. Denn, so der Papst, „in der westlichen Gesellschaft wurde die Ausbeutung wenigstens in den von Karl Marx analysierten und beschriebenen Formen überwunden.“

Auf Basis der katholischen Soziallehre wird dann ein umfassendes Bekenntnis zum Kapitalismus abgelegt: „Wird mit »Kapitalismus« ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv.“

Natürlich habe dieser auch Schattenseiten, dagegen hält der Papst die katholische Soziallehre, wobei freudig zur Kenntnis genommen wird, dass sich auch weite Teile der Arbeiterbewegung weg vom Klassenkampf hin zu einer sozialreformerischen Bewegung entwickelt haben.

Historisch neu ist, das eindeutige Bekenntnis eines Papstes zu einem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Man/frau bedenke, dass nach katholischer Theologie der Papst in Glaubensdingen unfehlbar ist, diese Enzyklika also nicht des Papstes Worte allein sind, sondern die Worte Gottes persönlich – Gott ist also Kapitalist.

Kontinuitäten

Nun ist Joseph Ratzinger Papst – bleibt alles anders ? Die Wahl Ratzingers ist wohl ein offenes Bekenntnis zu Fortsetzung der Politik Johannes Paul II. Die meisten wählenden Kardinäle waren von Wojityla eingesetzt worden und auf Kurs getrimmt. Ratzinger, der seit 1981 die Inquisition, pardon Kongregation für Glaubenslehre, leitete war bis zu seiner Wahl als Chefideologe des Papstes tätig, die Gedanken von Centesimus Annus gehen wohl auch auf ihn zurück. Ratzinger und Wojityla waren sich in der Ablehnung marxistischen Gedankenguts immer einig. Beide bekämpften Befreiungstheologen in Lateinamerika, die Evangelium und soziale Revolution verknüpfen wollten. So bezeichnete Ratzinger 1984 den Kommunismus als „Schande unserer Zeit“[iii], welche die Menschen versklaven würde. Auch theologisch gilt Ratzinger, der beim 2. vatikanischen Konzil noch zu den Reformern (!) zählte, als radikal konservativ und zentralistisch, der katholische Männerclub hat sich also für eine Fortsetzung des Altbewährten entschieden.

Viel Fortschritt mag man/frau von einem Amt, das „die versteinerte Ideologie des Mittelalters repräsentiert“[iv] auch nicht erwarten, oder wie Marx es formulierte: „Die Hypotheke, welche der Bauer auf die himmlischen Güter besitzt, garantiert die Hypotheke, welche der Bourgeois auf die Bauerngüter besitzt.“[v]

[i] Vgl. MEW 36, S. 622.

[ii] http://www.vatican.va/edocs/DEU0071/_INDEX.HTM – dort der Volltext der Enzyklika, aus dem nachfolgende Zitate entnommen sind.

[iii] Zit. nach L’Espresso, 28.04.2005.

[iv] MEW 4, S. 496.

[v] MEW 7, S. 56.

(veröffentlicht in UNITAT 2/05)

Der Kleinbürger will hoch hinaus

Wir schreiben das Jahr 2005, von allen Ecken des Kulturbetriebs tönt, was einst und jetzt Albtraum so manchen Mittelschülers: Wir haben ein Schiller-Jahr, jährt sich doch am 9. Mai Friedrich Schillers Tod zum 200. Mal. Grund genug einen Blick auf sein Leben und Werk zu tun. Von Timon Jakli

Als Friedrich Schiller 1759 geboren wird, stehen die Chancen für aufstrebende Kleinbürger im Deutschland der Kleinstaaterei des 18. Jahrhunderts gut.

In Württemberg studiert er zunächst erfolglos Jura und später Medizin. Gegen den aufgeklärten Absolutismus vollzieht Schiller schreibend das Aufbegehren, das die Stürmer und Dränger schon Jahre zuvor ausdrückt hatten.

Die Räuber (1780) zeigen den Kampf des Einzelnen gegen die Gesellschaft – Schiller als wilder Revolutionär, das Stück macht ihn schlagartig bekannt. Schiller flüchtet aus der Enge Stuttgarts, es folgen Fiesko und Kabale und Liebe, die erfolglos bleiben. In den frühen Stücken lässt sich noch eine gewisse Distanz zur bürgerlichen Gesellschaft abmessen – wie Engels bemerkt, „[sei] es das Beste an Schillers „Kabale und Liebe“, daß sie das erste deutsche politische Tendenzdrama ist“.[i]

Wallfahrt zur Bürgerlichkeit

Geldsorgen treiben Schiller 1785 nach Leipzig, wo Don Karlos entsteht, der den Umbruch seiner dramatischen Konzeption markiert, und er beginnt sich historischen Studien zu widmen.

1787/88 kommt Schiller nach Weimar. Chronisch über Geldmangel klagend, besteht seine Hauptsorge darin von einer Gesellschaft zur nächsten zu eilen. Er verfasst die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande, geprägt (auch mit Blick auf Frankreich) vom Glauben an die verändernde Kraft des Bürgertums. Als Schiller 1792 das Bürgerrecht der Republik Frankreich verliehen wird, hatte er sich schon längst von revolutionären Ideen verabschiedet.

Mit der Professur für Geschichte in Jena und seiner Ernennung zum Hofrat 1789/90, hatte er den Traum des Kleinbürgers gelebt. In dieser Zeit beginnt für Schiller eine Zeit der radikalen Umorientierung.

Es entstehen zahlreiche theoretische Schriften zum Theater. Mehr noch setzt sich Schiller mit Kant auseinander, was für sein folgendes Werk prägend wird. Der Begriff des Ideals wird zentral, seine Dramenfiguren werden zu „schönen Seelen“, bei denen Kantsche Pflicht und persönliche Neigung zusammentreffen. Er verfällt, so Engels, dem „Aberglaube[n], dass der philosophische Idealismus sich um den Glauben an sittliche, d.h. gesellschaftliche Ideale drehe“, fordert in seinem Ideal etwas Ohnmächtiges, „weil er das Unmögliche fordert, also nie zu etwas Wirklichem kommt“.[ii]

Der Bürger als Künstler und Erzieher

Eingeleitet durch die gemeinsame Arbeit an den Horen beginnt 1794 eine intensive Zusammenarbeit mit Goethe. Ebenda erscheint 1795/96 sein wohl wichtigster Aufsatz öœber naive und sentimentalische Dichtung.

Hier expliziert Schiller sein Schreibprinzip anhand der Differenz naiv-sentimental. Während der naive Dichter unmittelbar die Natur erweitere, stehe der sentimentale in einem Reflexionsverhältnis zu ihr – der moderne Dichter rühre durch Ideen.

Schiller macht klar wessen Aufgabe die Veredelung des Menschen durch Kunst sei. Es bedürfe einer „Klasse von Menschen (…), welche ohne zu arbeiten thätig ist, und idealisiren kann, ohne zu schwärmen; welche alle Realitäten des Lebens mit den wenigstmöglichen Schranken desselben in sich vereiniget, und vom Strome der Begebenheiten getragen wird, ohne der Raub derselben zu werden.“.[iii]

Mit dieser Anspielung auf die Bourgeosie, entlarvt sich Schiller als Proponent des gerade an die Macht gelangenden Bürgertums. Die arbeitende Klasse sei „Opfer ihres Berufs“[iv], die nur in den Müßiggang abgleite.

Was bis zu seinem Tod 1805 folgt kann als Umsetzung dieser idealischen Ideologie gesehen werden, es entstehen Maria Stuart (1800), Wallenstein und Wilhelm Tell (1804).

Der Geist Schillers trifft sich am Ende mit dem von Adorno beschworenen: „Als Kraft hat Schwäche den Gedanken des angeblich aufsteigenden Bürgertums zu der Zeit schon an die Ideologie verraten, da es gegen die Tyrannei wetterte. Im innersten Gehäuse des Humanismus, als dessen eigene Seele, tobt gefangen der Wüterich, der als Faschist die Welt zum Gefängnis macht.“[v]

[i] MEW 36, Brief v. 26.11.1885

[ii] MEW 21, S. 281

[iii] Schiller, Friedrich: öœber naive und sentimentalische Dichtung. Reclam, 2002. S. 94.

[iv] Ebd.

[v] Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Suhrkamp, 2003. S. 100.

Copyright 2005 by Timon Jakli,
Veröffentlicht in UNITAT 1/05

Die hypertextuelle Revolution

Vom Versuch der Französischen Revolution von allen Seiten beizukommen

Was gemeinhin unter Vorlesung verstanden wird, weckt ja meist recht staubige Assoziationen mit fieberhaften Mitschriftversuchen und Stunden passiven Zuhörens. Einen anderen Weg versuchte Wolfgang Schmale, Professor am Institut für Geschichte an der Universität Wien, im WS 2003/04 zu gehen.

Ziel des Projektes ist nicht nur, einen öœberblick über die Französische Revolution zu geben, sondern auch auf rechts- und kulturgeschichtliche Aspekte (Verfassungsgeschichte, Genderperspektiven, Politische Kultur, Nachwirkungen im 19. und 20. Jahrhundert) einzugehen und so ein möglichst breites Panorama zu geben.

Im Zuge der Vorlesung entstand eine Website (http://vorlesung.univie.ac.at), auf der die Teilnehmer den Stoff der Lehrveranstaltung gemeinsam mit ihm erarbeiten sollten. Klingt kompliziert, ist es aber nicht: Die Website ist als Datenbank aufgebaut, bei der es öœberblicksartikel zu den einzelnen Phasen der Revolution gibt, von denen vertiefende Artikel zu einzelnen Stichworten abrufbar sind (konkret zu Biographien, Quellen und Ereignissen), die von den StudentInnen verfasst wurden. Darüber hinaus sind zahlreiche Bildquellen und Tabellen zum weiteren Studium abrufbar.

Die Website ist sehr übersichtlich gestaltet, BenutzerInnen erkennen schnell die Logik des Aufbaus, die Menüs sind hierarchisch gut gestaltet und die Darstellung erfolgt übersichtlich. So werden die öœberblicksartikel in einem großen Frame und die vom Benutzer aufrufbaren Vertiefungen in einer Art Fußnotenfenster angezeigt. Einzig bei längeren Artikeln, insbesondere auch bei größeren Bildquellen, und bei Bildschirmen mit niedrigen Auflösungen kommt es zu Problemen bei der Anzeige, da nicht mehr alles auf dem Bildschirm dargestellt werden kann und gescrollt werden muss. Die Datenbank ist auch mit einer Suchfunktion ausgestattet, die das Auffinden von Stichwörtern im Text ermöglicht.

Was die wissenschaftliche Qualität der Beiträge anlangt, ist diese aufgrund der großen Zahl an Autoren sehr heterogen. Speziell in Bezug auf Zitation und Quellenangaben sind große Unterschiede zu bemerken, nicht immer ist die Herkunft der Gedankengänge klar ausgewiesen. Da alle Beiträge reviewed wurden, ist zumindest von der faktischen Korrektheit der Angaben auszugehen, die Tiefe der Abhandlung ist von den jeweiligen AutorInnen abhängig. Immer ist jedoch ein öœberblick über das Stichwort und aufgrund der durchgängig angegeben Literaturverweise auch die Möglichkeit zur eigenen Vertiefung gegeben.

Die Website stellt somit an die BenutzerInnen die Herausforderung nach eigenem Interessensstand und Wissen die knappen Einführungstexte – die meist aus einschlägigen Werken zitiert sind – zu erweitern und vertiefen.

Empfindlich macht sich das Fehlen einer Gesamtbibliogaphie bemerkbar, BenutzerInnen müssen sich Literaturangaben aus den einzelnen Beiträgen zusammensuchen. Ein thematisch geordnetes Verzeichnis hätte mehr Transparenz und BenutzerInnenfreundlichkeit gebracht.

In der Tat bietet das Projekt einen guten und reichhaltigen öœberblick über die Geschehnisse der Französischen Revolution. Der Versuch, der Revolution von möglichst vielen Seiten und Perspektiven beizukommen scheint tatsächlich geglückt, die Vielzahl der vertiefenden Artikel und einbezogenen Quellen liefert ein sehr heterogenes und differenziertes Bild der Ereignisse, das zum selbsttätigen Vertiefen in die Materie einlädt.

Mode

Im Kontext der Französischen Revolution veränderte sich das Verständnis von Mode; Kleidung wurde zunehmend zum äußeren Zeichen politischer Gesinnung, zum Abgrenzungs- und Ausgrenzungssymbol.

Im 18. Jhdt. bestimmten vor allem die französische Rokokomode und die nach Natürlichkeit strebende englische Mode.

Bei Hofe galt der Justaucorps (Mantel mit Stehkragen, kurzen ö„rmeln, und sehr großen geschmückten Manschetten), der die darunter getragenen Kniehosen verdeckte, als DAS Kleidungsstück und wurde auch in der Revolution als „royalistisches Abzeichen“ getragen (Bönsch 2001: S 190).

Im Bürgertum wurde zur Revolutionszeit durch den Frack Zugehörigkeit ausgedrückt, der von den „verschließbaren Jacken der unteren Bevölkerungsschichten“ beeinflusst worden war (ebd.: S 194). Immer mehr wurden volkstümliche Elemente in die Kleidung integriert (z.B. Pantalons, Halstücher, Holzschuhe). Die schwarze Kleidung der Abgeordneten wurde zum „Ehrenkleid des Bürgers“ ernannt (Internet), die dann von den antikisierenden Formen während des directoire abgelöst wurde (Internet 1).

Untere bürgerliche Schichten wie die Sansculotten (siehe Bild) zeigen durch das Tragen weiter, langer Hosen in revolutionären Farben politische Zugehörigkeit; die Pantalons werden schließlich in leicht veränderter Form auch von höheren bürgerlichen Schichten übernommen.

In der Frisurenmode wurde mit der Tradition der gepuderten Lockenperücken gebrochen, das Haar wurde zunehmend natürlich getragen. Auch Hüte mit revolutionären Symbolen wie der Kokarde und die rote Kappe wurden als Symbol der Revolution getragen (Internet).

Die Damenmode strebte nach schlanken Silhouetten, mit Betonung des „cul de Paris“ (Bönsch 2001: S 200) und durchaus erotischen Aspekten. Auch die Haartracht der Damen näherte sich der natürlichen Form und Farbe an. Unter dem directoire wurde Natürlichkeit angestrebt, immer mehr verschwanden Pomp und Farbenpracht aus der Frauenkleidung (Internet 1).

Revolutionärinnen zeigten modisch ihre Zugehörigkeit durch sansculottische Tracht bzw. manche kleideten sich in Aneignung typisch männlicher Modetopoi als Amazonen (siehe Bild).

Das directoire prägt die Mode neoklassisch, Kleidung und Uniformen (siehe Bild) orientierten sich an der Antike, eine Abgrenzung zu den vorhergegangenen politischen Perioden wurde angestrebt; erstmals wurde eine einheitliche Uniformierung geschaffen.

Quellen:

Bö–NSCH, Annemarie: Formengeschichte europäischer Kleidung. Hrsg. von Gabriela Krist. Wien [u.a.]: Böhlau Verlag, 2001. (=Konservierungswissenschaft, Restaurierung, Technologie, Bd. 1). S. 183-210

Internet: http://www.br-online.de/bildung/databrd/mod2.htm/mod2f02.htm (13.1.04)

Internet 1: http://web.archive.org/web/20020810215033/http://www.costumes.org/pages/fashiondress/FrenchRevolution.htm (13.1.04)

Vizille, Ständeversammlung 1788

Die Reformen des ancien rö©gime Ende der 80er Jahre stießen auf heftigen Widerstand seitens des provinziellen Adels. Die Ohnmacht gegenüber der Finanzkrise des Staates und die Gerichtsreform, die darauf abzielte, die parlements zu entmachten, evozierten teils gewaltsame Reaktionen.

Als Reaktion auf die Edikte vom Mai 1788, in denen die Auflösung der Parlamente beschlossen wurde, kam es am 7. Juni 1788 zu einer Revolte in Grenoble (in der Provinz Dauphinö©, im Südosten Frankreichs). Die Bevölkerung bewarf Truppen, die zur Kontrolle der Lage eingeschaltet wurden, mit Ziegelsteinen (daher „journö©e des tuiles“). Der Abzug der Richter konnte trotzdem nicht verhindert werden.

Bei der am 14. Juni 1788 in Grenoble abgehaltenen Versammlung kam es zu einer revolutionären Entwicklung: „die Bourgeoisie setzte sich an die Spitze der Bewegung“ (SOBOUL 1988: S 84).

Auf Antrag Mouniers wurde die Wiederherstellung der parlements, die Einberufung der Provinzialstände der Dauphinö© (mit Abstimmung nach Köpfen und Verdoppelung des 3. Standes), sowie die Einberufung der Generalstände verlangt.

Am 21. Juli trat schließlich die Provinzialversammlung auf einem Schloss in Vizille nahe Grenoble zusammen (50 Geistliche, 165 Adelige, 276 Abg. 3. Stand) . Sie stellte im wesentlichen „eine Vorform der Generalstände von 1789 in provinziellem Maßstab“ dar (SOBOUL 1988: S 84). Verlangt wurde eine Ratifizierung der Beschlüsse von Grenoble: Wiederherstellung der parlements, Einberufung der Provinzialstände und der Generalstände (um „gegen den Despotismus der Minister anzukämpfen“; SOBOUL 1988: S 84), Verdoppelung des 3. Standes sowie Abstimmung nach Köpfen. Mehr noch wurde eine Vereinigung der Provinzen im Geiste nationaler Gesinnung gefordert.

Zwar fanden diese Beschlüsse keinen Wiederhall in anderen Provinzen, erregten aber großes Aufsehen in ganz Frankreich.

Am 5. September 1788 wurde in der Versammlung von Romans ein Entwurf für eine Provinzialverfassung erarbeitet. Am 1. Dezember wurden die ersten Provinzialstände seit 160 Jahren einberufen.

Die Beschlüsse von Vizille sowie die neue revolutionäre Rolle des dritten Standes bildeten einen wichtigen Ausgangspunkt der gesamten revolutionären Entwicklung, da es die „first clear articulation of the ideas around which the Third Estate crystallized in the Estates General“ war (SCOTT et al. 1985: S 292).

Quellen:

SOBOUL, Albert: Die große Französische Revolution. 5. durchges. Auflage. Frankfurt/Main: Athenäum, 1988. S 82-86

SCOTT, Samuel F. u. ROTHAUS, Barry (Hg.): Historical Dictionary of the French Revolution. 1789-1799. Westport: Greenwood Press, 1985. Bd. 1 A-K. S 290-292

Gewohnheitsrecht/droit coutumier

Der Terminus Gewohnheitsrecht (franz. droit coutumier, coutume) bezeichnet ein durch gemeinschaftlichen Brauch und praktische Anwendung entstandenes und aus dieser Gewohnheit heraus verbindlich gewordenes Recht. Konkret schließt dies vom Eherecht über Besitzrechte bis hin zum Lehensrecht ein.

Historische Entwicklung:

Im Frühmittelalter kam es in Frankreich durch gesellschaftlich-strukturelle Veränderungen zu einem Rechtsbedarf, weshalb im romanisierten Süden vermehrt auf das schriftliche römische Recht rekurriert wurde, im Norden auf das zunächst mündliche, lokale GR. Diese Diversität ist im Regionalitätsprinzip der Rechtsprechung begründet, das bis zur Französischen Revolution in Form der Gerichtsbezirke bestehen blieb.

Im 12./13. Jahrhundert begann die Kodifizierung des GR zunächst auf private Initiative lokaler Juristen. Bekanntestes Beispiel dafür sind die „Coutumes des Bauvaisis“ von Philippe de Baumanoir (Jurist und bailli [Amtmann] in Bauvais), der 1283 eine Sammlung des an seinem Gericht gebräuchlichen GR in französischer Sprache veröffentlichte.

Parallel dazu verlief 1250 die Etablierung des „Parlement de Paris“ als höchster staatlicher Appellationsinstanz. Da diese auch lokales GR zu berücksichtigen hatte, wurde die Kodifizierung der coutumes vorangetrieben. 1454 ordnete Karl VII in der Ordonnanz von Motils-les-Tours eine staatliche Redaktion und Kodifizierung des GR an. Die Ordonnanz bemängelt die Prozessdauer und die Kosten der Verfahren, die durch Rechtsunsicherheit im Bereich des GR evoziert würden. Die Kodifikation ging jedoch sehr langsam voran, bis das Verfahren schließlich auf Ebene der baillages organisiert wurde. Ende des 16. Jahrhunderts war eine flächendeckende Kodifizierung erreicht.

Das Rechtssystem im absolutistischen Frankreich war trotzdem nicht einheitlich. Nebeneinander bestanden 1) die kodifizierten coutumes 2) im Süden das römische Recht, das in gewohnheitsrechtlicher Praxis geübt wurde und 3) die coutumes als mündliches Recht.

Gewohnheitsrecht und die Französische Revolution:

Durch die Aufwertung der baillages bei der Kodifizierung des GR wurde eine wichtige strukturelle Grundlage für die politische Kultur der Revolution geschaffen.

Ludwig XVI bezog sich auf das GR, als der Ruf nach einer Verfassung laut wurde. Die Position des Königs war, dass in den coutumes eine gewohnheitsrechtliche Verfassung verankert sei, was die Nationalversammlung ablehnte.

Das GR wurde auch in den Beschwerdeheften thematisiert. Zahlreiche Beschwerden des dritten Standes bezogen sich auf lokale, oft jahrelang andauernde Rechtsstreitigkeiten mit Grundherren. Das GR und damit das darin verankerte Feudalsystem wurden so problematisiert. Die NV kam am 4./5. August mit der formellen Abschaffung der Feudalrechte zu dem Schluss, dass gewohnheitsrechtlich behauptete Besitzansprüche von Grundherren nicht ausreichend seien. Diese Tendenz findet sich bereits in Prozessen des anciö©n rö©gime, wurde aber erst durch die NV gesetzlich festgelegt.

Die Vereinheitlichung der Rechtsprechung, die bereits unter Karl VII angestrebt worden war, wurde erst mit der Französischen Revolution realisiert, indem eine Verfassung und ein einheitliches nationales Recht geschaffen wurde. Dieses Recht diente in weiterer Folge als Vorbild für zahlreiche Rechtsordnungen in ganz Europa.

Quellen:

HATTENHAUER, Hans: Europäische Rechtsgeschichte. Heidelberg: Müller Juristischer Verlag, 1992. S 310ff, S 374-378

BöœHLER, Theodor: Rechtsquellenlehre Band 1. Gewohnheitsrecht Enquöªte Kodifikation. Zürich: Schulthess Polygraphischer Verlag, 1977. S 14-65

SCHMALE: Geschichte Frankreichs. S 52, 90f, 110, 115