Dreißig Jahre zu spät

Am 10. Dezember wird Doris Lessing als elfter Frau der Literaturnobelpreis verliehen. Geehrt wird eine Erzählerin, die sich an zentralen Themen des 20. Jahrhunderts abarbeitet. Die Kritik an Kolonialismus und Geschlechterungleichheit prägen ihr facettenreiches Werk. Ein Blick auf ihr Leben, ihr Schaffen und das Verhältnis von Schweden zu Literaturnobelpreisträgerinnen.

Als die Schwedische Akademie ihre Entscheidung über den Literaturnobelpreis 2007 verkündete, war Doris Lessing gerade einkaufen und daher selbst für die honorigen Schweden nicht erreichbar. Und bei einer 87 jährigen Dame kann das schon etwas dauern. Zwei Stunden später also fuhr sie mit dem Taxi vor ihrem Haus in London vor und wurde bereits von einer ReporterInnenschar erwartet. Ihre erste Reaktion fiel in der ihr eigenen nonchalanten Begeisterung aus: „Das geht jetzt schon 30 Jahre lang so. Ich habe alle Auszeichnungen in Europa gewonnen, jeden verdammten Preis! Also bin ich entzückt, sie jetzt alle zu haben. Es ist ein ‚Royal Flush‘. […] Sie können den Nobelpreis keinem Toten geben. Deshalb haben sie wahrscheinlich gedacht, ihn mir besser jetzt zu geben, bevor ich abkratze.“ Gesagt und Frau Lessing war nicht nur um eine Ehre, sondern auch um 1.1 Millionen Euro reicher.

Ihr Leben – eine Geschichte Doris Lessing wurde 1919 als Tochter eines britischen Kolonialbeamten und einer Krankenschwester im Iran geboren. Als sie sechs Jahre alt war, zog die Familie nach Südrhodesien (Simbabwe) um. Bald wurde sie mit der Trostlosigkeit des kolonialen Alltags konfrontiert. Lessing erlebte sowohl das Platzen des Traumes vom Reichtum Afrikas in der eigenen Familie, als auch das Elend der einheimischen Bevölkerung. Diese Problematik sollte prägend für ihre frühen Texte werden. Lessing brach ihre rigide Schulerziehung mit vierzehn Jahren ab und machte sich intellektuell wie ökonomisch selbstständig. Kurz nachdem sie 1937 nach England zurückgekehrt war heiratete sie. Doch das Gefühl gefangen zu sein ließ sie nicht los, sie verließ ihren Mann. Kurz darauf kam sie in Kontakt mit dem „Left Book Club“, einer kommunistischen Buchklub- und Diskussionsbewegung, wo sie ihren zweiten Mann Gottfried Lessing kennen lernte. Nach und nach jedoch wurde sie von der kommunistischen Partei enttäuscht und verließ sie 1954 wieder. Es folgt Anfang der 1970er und 80er eine sehr produktive Zeit für Lessing, in der sie auf die Suche nach anderen Perspektiven zur Überwindung von Ungerechtigkeiten und Dichotomien macht. Dabei bleibt sie der Linken und der Frauenbewegung jedoch ihr Leben lang verbunden. In den 90er Jahren fand ihr Werk zunehmend Anerkennung und sie erhielt zahlreiche Preise. Bis heute lebt, schreibt und publiziert Doris Lessing in London.

Das Werk als Spiegel der Zeit Die frühen Texte wie The Grass Is Singing beschäftigen sich, basierend auf ihren eigenen Erfahrungen, mit Kolonialismus in Afrika. Sie prangern die Enteignung der AfrikanerInnen, die rassistische Ungerechtigkeit und die Sterilität der importierten europäischen Kultur an. Die Texte machten Lessing lange Zeit zur persona non grata in Südrhodesien und Südafrika. Lessings politische Erfahrungen Anfang der 1940er kulminieren in ihrem großen Roman The Golden Notebook von 1962. Das höchst komplex auf fünf Erzählebenen aufgebaute Buch versucht ein Panorama über politische und soziale Entwürfe weiblicher Subjektivität der Zeit zu geben. Ihre Ambition dabei ist es, wie die Realisten des 19. Jahrhunderts das Portrait einer ganzen Gesellschaft und ihres Klimas zu zeichnen. In den 1970er und 80er Jahren wendet sich Lessing einer von islamischer Mystik inspirierter Science Fiction zu, es entsteht der fünfbändige Zyklus Canopus in Argos: Archives. Ihr neuester Roman The Cleft erschien 2007 und sucht eine mythische Gesellschaft am Anfang der Menschheit auf, die nur aus Frauen besteht.

Umstrittene Entscheidung Nicht alle sind mit der Entscheidung für Doris Lessing zufrieden. Marcel Reich-Ranicki spricht von einer „bedauerlichen Entscheidung“. Er kenne „viele, jedenfalls mehrere bedeutendere, wichtigere Schriftsteller“ aus dem angelsächsischen Sprachraum. Von Lessing habe er „vielleicht drei“ Bücher gelesen und „nichts hat mich wirklich beeindruckt.“ Ganz anders reagierte Elfriede Jellinek, die 2004 selbst den Nobelpreis erhalten hat: „Ich hatte sogar gedacht, sie hätte ihn schon längst. Das Goldene Notizbuch [sei] sicher eines der wichtigsten feministischen Werke der Literatur überhaupt.“ In der Tat schlägt sie damit in eine Kerbe, die auch andere KritikerInnen anführen: Der Preis sei wichtig und verdient, komme aber„um 30 Jahre zu spät“, so Sigfried Löffler.

Die obskure Entscheidungsfindung der Schwedischen Akadmie wurde in den letzten Jahren immer wieder kritisiert. Überspitzt gesagt machen honorige ProfessorInnen einer (bis vor einigen Jahren ausschließlich männlichen) Kommission Vorschläge. In geheimen Beratungen wird dann der/die PreisträgerIn bestimmt: die Black Box spuckt einen Namen und eine zweizeilige Begründung aus und schiebt 1.1 Millionen Euro über den Tisch. Die Entscheidungen sind oft eher ein politisches als ein ästhetisches Statement – und dementsprechend auch umstritten. So wurden etwa mit Harold Pinter (2005) oder Dario Fo (1997) keine großen Stilisten ausgezeichnet – jedoch vehemente Kritiker neoliberaler Politik.

Frauen als Nobelpreisträgerinnen waren lange Zeit eine Seltenheit: Seit 1901 wurde der Nobelpreis 104mal vergeben, davon nur 11mal an Frauen. In den letzten 20 Jahren scheint sich jedoch ein deutlicheres Bewusstsein für solche Ungleichheiten gebildet zu haben: Zwischen 1901 und 1990 betrug der Frauenanteil ganze 7%, während er seit 1991 auf 30% angestiegen ist. Ähnlich sieht es mit dem Anteil von SchriftstellerInnen aus postkolonialen Kontexten aus. In der Begründung für die Verleihung an Doris Lessing heißt es, sie sei eine „Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat“. Das zeigt den schmalen Grat zwischen Essentialismus und Differenzkonzepten. AutorInnen, die gerade an der Dekonstruktion von Dichotomien arbeiten, mit Begriffen wie „weibliches Schreiben“ zu etikettieren ist gefährlich. Die Herausforderung besteht darin, „daß wir die Dinge nicht auseinanderdividieren dürfen, nicht in Fächer aufteilen dürfen“, wie Doris Lessing im Vorwort zum The Golden Notebook schreibt. Dieses Ringen nach einer totalen Perspektive ist es wohl, was Doris Lessings Werk so wertvoll macht.

Weblinks:
www.dorislessing.org
www.nobel.se

[i] http://www.kurier.at/nachrichten/kultur/114542.php (14.11.2007)

(veröffentlicht in PROGRESS 6/07, S. 21)

Späte Gerechtigkeit für Zivildiener ?

Seit Jahren kämpfen Zivildiener darum, für ihre Arbeit angemessen verpflegt zu werden. Viele haben zu niedrige Angebote der Einrichtungen angenommen, eine Handvoll Zivis hat nun beim Verwaltungsgerichtshof Beschwerde eingereicht. Der Kampf geht in die letzte Runde.

Immer wieder war seit 2001 vom Kampf aktiver und ehemaliger Zivildiener um gerechte Verpflegung zu hören. Was für Medien und Politik nur ein Saisonthema darstellt, ist für die Betroffenen eine Existenzfrage. Reichen 6 € am Tag, um sich als Schwerarbeiter zu ernähren? Reichen 13,6 €?

Was ist angemessen? Gesetzlich ist seit 2001 eine „angemessene Verpflegung“ vorgeschrieben, die meisten Einrichtungen speisten ihre Zivis mit 6 € pro Tag ab. Der Verfassungsgerichtshof hatte jedoch zuletzt 2005 festgestellt, dass – rückwirkend – ein Richtsatz von 13,6 € anzunehmen sei. Das Bundesministerium für Inneres [BMI] erließ daraufhin eine Verordnung, die ein diffuses Abschlagssystem von diesem Betrag vorsieht. Für minderschwere Arbeit, gleichbleibenden Dienstort und eine vorhandene Kochgelegenheit sollten Zivildiener weniger Geld bekommen. Prof. Bruno Binder, Verwaltungsrechtler an der Uni Linz, beschreibt das System als „wirr“ und „auf obskure Einzelheiten“ gestützt.

Viele Zivildiener haben keine Einigung mit den Einrichtungen erzielt und kämpfen sich durch Verfahren mit der Zivildienstserviceagentur und dem BMI, in denen Tagessätze festgestellt werden. Selten jedoch bringen diese Bescheide die erhoffte Gerechtigkeit: Die Verfahren dauern lange, Aussagen der Zivis wird kein Glauben geschenkt und ihre Argumente werden ignoriert. Prof. Binder bringt das Problem auf den Punkt: „Es ist kein Wunder, wenn bei der Masse der Fälle ZISA und BMI überfordert sind. Entsprechend schauen die Bescheide aus. Ich glaube, dass kaum ein Bescheid den rechtsstaatlichen Regeln des Verwaltungsverfahrens entspricht.“

Eine Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof [VwGH] gegen diese Bescheide einzubringen wagen dennoch die Wenigsten. Das stellt ein grundsätzliches rechtsstaatliches Problem dar, wie Gerald Gmachmeir, Sachbearbeiter für Zivildienst im Sozialreferat der ÖH Uni Linz, deutlich macht: Können es sich Betroffene überhaupt leisten, um ihr Recht zu kämpfen? Das Kostenrisiko für eine Beschwerde liegt im Falle des Verlierens zwischen 400 € und 2000 €. „In einem Fall z.B. ging es um nur ca. 100 €. Nach meiner Einschätzung waren die Chancen beim VwGH zu gewinnen sehr gut – aber 1.400 € Risiko plus Zeit und Nerven, um dann 100 € zu bekommen? Der Betroffene hat auf die VwGH-Beschwerde verzichtet.“

Je höher es den Instanzenzug hinaufgeht desto weniger Zivildiener können noch Zeit und Geld für die Verfahren aufbringen (können). Die Zahlen, die Gmachmeir angibt, bestätigen das: Von der Verpflegungsgeldfrage waren ca. 40.000-50.000 Zivis betroffen, etwa die Hälfte nahm die (oft zu niedrigen) Angebote der Einrichtungen an. Bis zum BMI haben sich nur noch 1000-2000 Zivis hochgekämpft. Beim VwGH sind letztlich bisher etwa 10 Beschwerden angekommen, einige Dutzend Zivis haben um Verfahrenshilfe angesucht.

Verwaltungsgerichtshof…und dann ? Die Frage ist nun, wie der VwGH die Verfahren handhaben wird. Jeden Bescheid einzeln zu untersuchen wäre problematisch. „Wenn der Verwaltungsgerichtshof die Verfahrensvorschriften in aller Härte judiziert, ist das Gesetz nicht vollziehbar,“ erklärt Prof. Binder. Für die gerechte Vollziehung müssten Sachverständige beigezogen werden, die Kosten würden explodieren und auch in Zukunft müsste jeder Einzelfall durch ein langwieriges und teures Verfahren geklärt werden. Daher erhofft sich Gmachmeir „eine Grundsatzentscheidung, denn nur dann haben auch die anderen Ex-Zivis und die aktuellen und künftigen Zivis was davon . Eine Bescheidaufhebung wegen irgendeines einzelnen Verfahrensfehlers hilft da wenig, weder den Zivis noch den Behörden.“ Eine solche Grundsatzentscheidung würde sich nicht auf Verfahrensfehler  konzentrieren, sondern unabhängig von einzelnen Fällen die Zulässigkeit der Abschläge klären. Es bleibt, wie Prof. Binder sagt, die Hoffnung „auf Vernunft in der Politik – und auf die Wiederkehr des Anstands.“ Denn: „Dass der Staat unseren erwachsenen Kindern Pflichtarbeit abverlangt, wenn sie keinen Militärdienst leisten, ist nachvollziehbar. Dass der Staat dann aber ihre Ernährung nicht sicherstellt, zeigt, dass unsere Kinder in die Hand ethikfreier Technokraten geraten sind. Und das schon seit Jahren.“

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien

Weblinks:
www.zivildienst.at
www.ziviforum.com
www.zivildienstverwaltung.at

(veröffentlicht in PROGRESS 5/07, S. 16)

Vater, vergib mir…

Sechzehn Jahre sind seit dem letzten Attentat der RAF (Rote Armee Fraktion) vergangen – aber noch immer erhitzt das Thema die Gemüter. In der Debatte um die Freilassung der RAF-Aktivisten Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar fallen indes weniger politische als moralische Argumente. Es entwickelt sich ein archaischer Diskurs um Reue, Buße und Gnade.

Als am 5. September 1977 der deutsche Arbeitgeberpräsident Hans-Martin Schleyer von einem Kommando der RAF entführt wird, beginnt der „Deutsche Herbst“ – eine von Deutschland immer noch als traumatisch empfundene Zeit des politischen Terrors. Durch Videobotschaften versucht die RAF die gefangenen KämpferInnen der ersten Generation (Baader, Ensslin, Raspe u.a.) freizupressen. Als die Bundesregierung unter Helmut Schmidt nicht auf die Forderungen eingeht, entführt die PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) ein Passagierflugzeug. Das Flugzeug wird von Sondereinheiten gestürmt, drei der vier Palästinenser werden getötet. In der Nacht darauf begehen Rasper, Ensslin und Baader im Gefängnis Stammheim Selbstmord, einen Tag später gibt die RAF die Hinrichtung Schleyers bekannt. Der „Deutsche Herbst“ markiert den Höhepunkt des politischen Terrors in Deutschland durch die sogenannte zweite Generation der RAF.

Die Genese des Terrors der RAF ist zutiefst mit der Entwicklung der deutschen Nachkriegsgesellschaft verbunden. Die RAF ist nicht zuletzt ein Versuch die Erkenntnisse der 68er Bewegung radikal weiterzudenken und in politische Praxis umzusetzen. Der Staat wird als repressives Gewaltorgan erlebt (1967/68 sterben 2 Studenten bei Demos, Kollaboration mit dem persischen Schah) – für die erste Generation der RAF unter Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Ulrike Meinhof ist Gegengewalt nur die logische Konsequenz. Nach einer militärischen Ausbildung in Jordanien 1970 beginnt der politische Terror der RAF. Gleichzeitig kommt es in Deutschland zu einer nie gesehenen antilinken Hetzkampagne durch den Axel-Springer Verlag, der einen Großteil des Zeitungsmarktes kontrollierte. Nach der Verhaftung der ersten Generation bildet sich bald eine zweite Generation heraus, die gezieltere Attentate auf Führungspersönlichkeiten durchführt. Auch hier sind die Attentate Ausdruck einer fundamentalen Kritik am verlogenen Gesellschaftssystem der BRD: Generalbundesanwalt Buback als Exponent einer ungerecht erlebten Justiz, Schleyer als Schreibtischtäter des Naziregimes und Stütze der BRD-Gesellschaft, der Bankier Ponto als Exponent des kapitalistischen Finanzsystems. Anfang der 1980er werden die meisten Mitglieder der zweiten Generation gefasst, darunter auch Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Während eine dritte Generation noch bis Anfang der 1990er Jahre weiterkämpft, wurden Klar und Mohnhaupt zu fünf Mal lebenslänglich plus 15 Jahren (!) in Hochsicherheitshaft verurteilt.

Asymmetrien Seit einigen Monaten schwelt in Deutschland die Debatte um die Begnadigung Mohnhaupts und Klars. Die dabei eingesetzte Rhetorik ist erschreckend archaisch. Im medialen Diskurs wird ein öffentliches Reuebekenntnis gefordert, der Ruf nach Buße wird laut. Es scheint um mehr als eine Abwendung vom damaligen Kurs zu gehen, vielmehr wird eine öffentliche Absage an den bewaffneten Kampf durch die KämpferInnen selbst gefordert. In ihren Elementen erscheint diese Forderung religiös, enthält sowohl credo als auch Widersagung. Auffällig ist, dass der politische Terror nicht historisch verortet wird, sondern völlig ahistorisch und moralisierend behandelt wird. Gleichzeitig werden die Grenzen zwischen politischem Terrorismus und islamischem Terrorismus verwischt und der Diskurs mit einem polemischen Abwehrdiskurs gegen „das Böse“ verquickt. Die damit entstehende Verbindung von „Links“ und „Böse“ wird durch die „Gnade“ des liberalen Staates noch zusätzlich zementiert. Brigitte Mohnhaupt wurde im März 2007 begnadigt und lebt seitdem in Deutschland, Christian Klar wurde die Begnadigung verweigert und er befindet sich noch in Haft.

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien und Konstanz

Weblinks: http://www.rafinfo.de

Veröffentlicht in Progress 4/07, S. 15

Faust sticht Woyzeck

Verspricht ein Umschlagtext „die vielleicht kürzeste Weltliteratur der Welt“, spricht das nun oft nicht gerade für den Inhalt. In diesem Falle finden sich in einer kleinen blauen Packung 31 Spielkarten – und die haben es in sich. Das Literarische Kartenspiel versammelt den Kanon der Weltliteratur (mit einer ernüchternden Männerquote von 100%) und macht ganz respektlos gegenüber den Klassikern ein Spiel daraus.
Das Spielprinzip ist recht einfach: Auf jeder Karte findet sich eine Radikalzusammenfassung eines Werkes – also Krieg und Frieden oder Der Mann ohne Eigenschaften auf 54 cm². Bestimmte Schlüsselwörter sind farbig gedruckt und wer mag, kann anhand derselben in einer Runde die Werke zu erraten versuchen. Erratene Spielkarten dürfen behalten werden und wer zum Schluss die meisten Karten hält, gewinnt.
Frei nach Alfred Dorfer könnte das nun alles in „haha, da lacht der Bildungsbürger“ enden – wären die Zusammenfassungen der Werke nicht so herrlich böse und witzig geschrieben. Womit sich die Lektüre der Kärtchen auch für passionierte NichtspielerInnen lohnt. Auch wenn Frank Goosens deutsches Idiom hierzulande manchmal befremdlich wirkt (man/frau lässt beim Feiern hier definitiv nicht „die Kuh fliegen“) macht der entspannte Umgang mit Literatur Spaß. Zudem auch empfohlen als last-minute Prüfungsvorbereitung. TJ

Veröffentlicht in PROGRESS 3/07

Die Macht des geschriebenen Wortes

Seit es Vorlesungen gibt, ist sie ständige Begleiterin des StudentInnenalltags: Die Mitschrift. In Zeiten von Laptop und Computer hat sich die Form von Mitschriften und ihres Austausches geändert, was sowohl Chancen als auch Probleme mit sich bringt.

Die Mitschrift hat eine lange Tradition. Hätte Platon nicht die Dialoge seines Lehrers Sokrates niedergeschrieben, wären die Vorlesungen Ferdinand de Saussures nicht postum von seinen Schülern veröffentlicht worden oder gäbe es nicht emsige Mitschriften von Vorlesungen Hegels und Heideggers würde die Philosophie und Geistesgeschichte vielleicht ganz anders aussehen.
Auch im heutigen Unialltag ist die Mitschrift allgegenwärtig: In Hörsälen schreiben StudentInnen Blöcke voll, andere sitzen gleich mit dem Laptop in der Vorlesung. öœber Emailverteiler werden Folien verschickt, oft werden Mitschriften online gestellt oder per Mail einfach weitergeleitet. In Onlineforen tauschen StudentInnen Mitschriften oder teilen sich die Schreibarbeit auf. Manche holen so Lehrveranstaltungen nach, die sie nicht besuchen konnten, andere vergleichen oder ergänzen die eigene Mitschrift oder nutzen Skripten als Lernbehelf. Die Formvielfalt moderner Mitschriften wirft aber auch so manches Problem auf.

Wenn der Anwalt klopft

Angesichts rechtlicher Probleme kommt bei manchen StudentInnen plötzlich Ernüchterung über Skriptentausch im Netz auf. So erzählt Alexandra: „Ich wurde von einer Onlineplattform angesprochen, ob ich meine Zusammenfassungen von Büchern nicht auch online zur Verfügung stellen könnte. Zwei wurden dort veröffentlicht, mit einer gab es Probleme, weil ein Institut der WU mit einer Urheberrechtsklage drohte.“ Für die Studentin ging dieser Fall glimpflich aus – sie war anonym unterwegs, die Onlineplattform musste jedoch eine Strafe bezahlen.
Nicht nur Bücher, auch der Inhalt von Vorlesungen selbst unterliegt rechtlichen Bestimmungen, wie ö–H-Juristin Regina Groiß ausführt: „Vorlesungen sind Sprachwerke im Sinne des Urheberrechtsgesetz. Die damit verbundenen Rechte stehen daher dem oder der Vortragenden zu. Eine Mitschrift zum persönlichen Gebrauch ist zulässig, für jede Art der Veröffentlichung, Verbreitung etc. ist die Zustimmung des oder der Vortragenden erforderlich, ebenso für Tonaufzeichnungen.“ Bei einer Verletzung dieser Rechte kann auf Unterlassung bis hin zu Schadenersatz geklagt werden. Eine Nachfrage bei dem/der Lehrenden macht also durchaus Sinn.

Sinn und Unsinn

öœber die Sinnhaftigkeit von Mitschriften gehen die Meinungen teils stark auseinander. Esther Ramharter, Philosophin an der Uni Wien, beschreibt ihre Vorlesung als „intimen Akt zwischen den Studierenden und dem/der Vortragenden.“ Daher hat sie nichts gegen den Austausch guter Mitschriften, sehr wohl jedoch gegen Tonaufnahmen – da fragmentarisches Hineinhören „Dinge, die nur vorläufig sind, dann für absolut und endgültig“ erscheinen lassen könne. Darüber hinaus haben Skripten in den verschiedenen Studienrichtungen einen unterschiedlichen Stellenwert. Stefanos, der am Technikum Wien studiert, erzählt im Informatikbereich wären studentische Mitschriften kaum von Bedeutung, da die Lehrenden die relevanten Materialien zur Verfügung stellen.

Börse goes Community

Mitschriftenbörsen im Netz sind für die meisten StudentInnen wohl die wichtigste Quelle neben von Lehrenden selbst oder im Buchhandel vertriebenen Skripten. Joe Sulzenbacher von der Plattform UniHelp.cc führt aus: „Die Bedeutung von Onlineplattformen ist zunehmend, speziell in überlaufenen Studienrichtungen sind Lernhilfen für den Studienerfolg sehr förderlich. Dennoch sind sie kein Ersatz für den Lehr- und Lernbetrieb der Uni, aber eine sinnvolle Ergänzung und erleichtern den Austausch Studierender untereinander.“ Dabei geht die Entwicklung immer mehr in Richtung „interuniversitäre Communities“, deren Angebot von Nachrichten über Foren bis hin zu Skripten geht, wie Gerald Schober von UniHelp.cc erklärt. Wie es scheint sind also die Vorlesung und ihre Mitschrift noch lange kein toter Hund, sondern auf dem Weg ins 21. Jahrhundert.

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien und Konstanz

Weblinks
www.skripten.at
www.med-skripten.net
www.unihelp.cc

Veröffentlicht in Progress 3/07

Wir sind Elite – oder ?

Unter dem grenzgenialen Slogan „Brain up!“ soll ein Exzellenzprogramm die krisengeschüttelte deutsche Universitätslandschaft mit fast 2 Mrd. Euro wieder ankurbeln. Das Geld kommt jedoch vor allem der Forschung und kaum der Ausbildung von StudentInnen zu Gute.

Nicht nur in ö–sterreich wird Unipolitik mit Schlagwörtern ö  la „ö–sterreich muss Harvard werden“ gemacht. Auch unsere deutschen Nachbarn machen sich gegenwärtig Gedanken, wie man aus einer darniederliegenden Universitätslandschaft ein exzellentes Bildungssystem bauen könnte.

In Deutschland wurde Mitte 2005 die „Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder“ beschlossen, ein Programm, das „Leuchttürme der Wissenschaft, die auch international ausstrahlen“ (BMBF) schaffen soll. In einem dreistufigen Auswahlverfahren werden Fördermittel für drei Arten von Programmen vergeben: In ca. 40 Graduiertenschulen wird die postgraduale Ausbildung von JungforscherInnen gefördert. Etwa 30 Exzellenzcluster bilden Forschungszentren, die mit 6,5 Mio. Euro pro Jahr für projektorientierte Forschungskonzepte gefördert werden. Im dritten Schritt werden Zentren für Spitzenforschung (ähnlich Eliteuniversitäten) eingerichtet, die bereits mindestens einen Cluster und eine Graduiertenschule beheimaten und für ein Gesamtkonzept nochmals mit 21 Mio. Euro jährlich gefördert werden. Insgesamt werden bis 2011 ganze 1,9 Mrd. Euro ausgeschüttet (zum Vergleich: Die österreichische Eliteuni schlägt mit max. 70 Mio. Euro pro Jahr zu Buche).

Schieflage Ursprünglich als Gesamtförderprogramm gedacht, wurde aus der Initiative ein Forschungsförderungsprogramm, das kaum in die universitäre Lehre investiert. Nur die Graduiertenschulen kommen auch unmittelbar StudentInnen zu Gute. Zudem ist die Förderung stark auf Naturwissenschaften ausgerichtet: Nur ein Bruchteil der Graduiertenschulen und ein Exzellenzcluster (Uni Konstanz, Kulturelle Grundlagen von Integration) kommen aus den Geisteswissenschaften.

Der Geldsegen für die universitäre Forschung ist eine Ironie angesichts überfüllter Hörsaale, Studiengebühren und Zugangsbeschränkungen. Prof. Albrecht Koschorke, Mitglied im Vorstand des Konstanzer Exzellenzclusters, beschreibt die Situation als „Reichtum unter den Bedingungen extremer Mangelwirtschaft“. Den Unis werde, „selektiv zurückgegeben, was ihnen in den letzten Jahrzehnten weggenommen wurde“. Prof. Koschorke erzählt, das Missverhältnis werde deutlich, wenn er am Vormittag für wenige Tausend Euro für Lehraufträge verhandle und ein paar Stunden später in einer Sitzung darüber nachdenke, wie mehrere Millionen Euro ausgegeben werden könnten.

Zukunftsperspektive Harvard ? Den bitteren Nachgeschmack des Geldsegens darf mensch indes nicht verschweigen. Er unterstützt die seit einigen Jahren sukkzessiv forcierte Abspaltung höherer Qualifikation (Master, Doktor) von einem Grundstudium für die Masse (Bachelor). Damit wird der humboldtsche Idee einer Lehre aus Forschung, die für deutsche Universitäten lange Leitbild war, buchstäblich die (Lehr-)Basis weggezogen. Andererseits bemerkt Koschorke, könnten „dynamische Strukturen, die finanziell abgesichert sind, viel bewirken“ und sich so auch kleinere Unis im Forschungsfeld behaupten. Für die Lehre brächte das Programm bestenfalls einen „lateralen Entlastungseffekt“, wie Koschorke ausführt – den Unis bleiben Spielräume die Mittel den StudentInnen indirekt zu Gute kommen zu lassen.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erscheint unser eigener Wissensleuchtturm in Gugging zweifelhaft.

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien und Konstanz

Weblinks:
http://www.bmbf.de
http://www.wissenschaftsrat.de/
http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,396421,00.html

Veröffentlicht in PROGRESS 2/07, S. 11

In die Hölle und zurück

Die Literaturgeschichte ist nicht gerade arm an Reiseberichten, auch Fahrten in die Hölle (und manchmal wieder zurück) finden sich zur Genüge. Der Titel In der Hölle. Blicke in der Abgrund der Welt. verspricht also viel. Dahinter verbirgt sich eine Höllenfahrt der anderen Art, geschrieben von Denis Johnson, einem weit gereisten Exjunkie, der als Sohn eines amerikanischen Offiziers in der Welt herumkam. Darauf folgte ein zurückgezogenes Leben irgendwo in Idaho. Eben jener Denis Johnson gilt – hierzulande eher unbekannt – als einer der wichtigsten amerikanischen Gegenwartsautoren, als wahrer Meister der Kurzprosa und der literarischen Reportage.

In der Hölle erzählt von Johnsons Reisen im Auftrag des „New Yorker“ in die von Bürgerkrieg zerrissenen afrikanischen Länder Liberia und Somalia. Wer sich dabei eine Analyse der Hintergründe dieser Konflikte erwartet, wird enttäuscht werden. Wie der Titel bereits anklingen lässt, geht es um eine Reise in einen Abgrund. Im englischen heißt der Band schlicht Seek, ein Suchen und Ausloten von Grenzbereichen an den Rändern der Gesellschaft. Daraus entstehen unglaublich spannende und von einer surrealen Apokalyptik gezeichnete Reportagen, die in existentiellen Extremsituationen einen kurzen Blick auf die bizarre Realität des Menschen geben. (tj)

Denis Johnson: In der Hölle. Blicke in den Abgrund der Welt. Tropen Verlag, Berlin 2006.

Veröffentlicht in PROGRESS 2/07, S. 29

Studieren im Land der PhilosophInnen

In der Heimat von Platon und Aristoteles sei die Wissenschaft besonders gern zu Hause – würde man meinen. Doch nicht alle GriechInnen sind PhilosophInnen, nicht jeder Tanz ein Syrtaki und Studieren in Griechenland heißt nicht zuletzt mit einer Menge Problemen fertig werden.

Studieren im Land der PhilosophInnen

Beim Schlagwort Griechenland kommen den meisten wahrscheinlich Tavernen mit blauen Stühlen, Syrtaki und Sonne in den Sinn, nicht jedoch dass das Nationaleinkommen das zweitniedrigste der „alten“ EU-Länder ist, die Arbeitslosenquote bei 10% liegt. Die Verfassung schreibt vor, dass Bildung kostenlos ist – weshalb es in Griechenland weder Studiengebühren gibt, noch private Schulen und Universitäten erlaubt sind. Dies wird von der regierenden neoliberalen Nea Dimokratia mehr und mehr unterwandert, was zu heftigen StudentInnenprotesten in den letzten Monaten führte. Das „Ministerium für Bildung und religiöse Angelegenheiten“ verwaltet 22 Universitäten, an denen 360 000 StudentInnen studieren, weitere 210 000 besuchen eine der 14 TEI (entspr. Fachhochschulen).

Die Grundlage vieler Probleme wird bereits in den Mittelschulen gelegt. Bis 15 besuchen die Kinder eine zweistufige Gesamtschule. Danach kann entweder ein Lykeio (entspr. Gymnasium) oder ein TEE (entspr. Fachschule/HTL) besucht werden. Sissy, die in Thessaloniki studiert, erklärt: „Die Schule vermittelt nicht alles, was die Schüler brauche, um zu studieren, es werden nur sehr basale Kenntnisse vermittelt.“ Daher nehmen die meisten SchülerInnen Nachhilfe. Die Kosten dafür (etwa 2000-3000 Euro pro Kind und Jahr) sind eine enorme Belastung für sozial schwächere Familien. „Viele haben Schwierigkeiten das Geld aufzubringen, zahlen aber trotzdem, weil sie hoffen, dass das Kind die Universität besuchen kann“, erklärt Sissy.

Der Sprung an die Uni wird durch einen strengen numerus clausus gebremst. In landesweiten Examen werden die SchülerInnen gereiht. Gleichzeitig müssen sie bereits hier Studienrichtung und Universität wählen. Für einen Studienplatz sind gute Leistungen im Examen und beim Schulabschluss im jeweiligen Fach erforderlich. Schafft man das Examen nicht, gibt es die Möglichkeit diese zu wiederholen oder durch einen guten Fachabschluss einen Platz an einem TEI zu bekommen. Aufgrund dieser harten Auswahlbedingungen investieren viele Familien hohe Summen in Nachhilfe, in der Hoffnung den Kindern sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Die scheinbare Gleichheit im Auswahlverfahren wirkt jedoch genau entgegengesetzt, wie Pierre Bourdieu analysiert: „Indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprünglichen Ungleichheiten gegenüber der Kultur.“ Kosmas, der in Athen studiert, konkretisiert: „Da wirklich alle Nachhilfe nehmen müssen, sind die gut Verdienenden natürlich im Vorteil.“

Das studentische Leben ist einerseits von Prekärität geprägt. Ein Studienbeihilfenwesen wie in ö–sterreich gibt es nicht, viele StudentInnen müssen sich Geld dazuverdienen, meist ohne Anmeldung und soziale Absicherung. Andererseits werden an griechischen Unis Lehrbücher kostenlos zur Verfügung gestellt, auch Mensa und Museen sind frei. Die meisten Lehrveranstaltungen haben Vorlesungscharakter, Seminare und Seminararbeiten sind eher die Ausnahme. Neben Souvlaki und Nescafö© Frappö© gehört auch die lebendige studentische Protestkultur traditionell zum griechischen StudentInnenleben dazu.

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien und Konstanz

Weblinks: http://www.ypepth.gr

Veröffentlicht in PROGRESS 01/07, S. 11

Zivi im Sonderangebot

Am 29. September endete die Frist, innerhalb der ehemalige Zivildiener ihre Ansprüche auf Nachzahlung des Verpflegungsgeldes anmelden konnten. Eine Bestandsaufnahme von begangenem Unrecht, politischer Willkür und ausgebeuteten jungen Menschen. Von Timon Jakli

Der Autobus nach Wien. Ein Grundwehrdiener in voller Uniform steigt ein, lässig einen Rucksack über die Schulter geworfen. Nicht einmal seinen Ausweis muss er herzeigen, sofort erhält er einen verbilligten Fahrschein. Einige ältere Damen äußern sich bewundernd über den schmucken Soldaten, wie attraktiv die jungen Männer im Kampfanzug nicht seien. Direkt hinter ihm ein anderer junger Mann, lässig gekleidet mit Dreads. Er zeigt seinen Zivildienerausweis vor, statt einem verbilligten Fahrschein bekommt er aber vom Fahrer unfreundlich erwidert, dass er keinen Anspruch darauf hätte. Wenn es ihm nicht passe, hätte er ja zum Heer gehen können. Die alten Damen sehen den jungen Mann pikiert an.

Der junge Mann arbeitet in einem Altersheim oder vielleicht bei der Rettung und setzt sich in 12 Stundenschichten, oft 60 Stunden in der Woche, für Mitmenschen ein.

An diesem Beispiel wird die Ungleichbehandlung von Zivildienern und die mangelnde Sichtbarkeit ihrer Arbeit in der Gesellschaft deutlich. Die letzten Entwicklungen sind nur Kulminationspunkt einer langen Entwicklung von juristischen Benachteiligungen, denen Zivildiener in ö–sterreich ausgesetzt sind.

Die Vorgeschichte

Die Situation der Zivildiener änderte sich nach der schwarz-blaurangen Wende gravierend. In wilder Novellierungswut sollten plötzlich 3,12 Euro pro Tag (vorher: 11,3) für die Verpflegung ausreichen. Dies wurde vom Verfassungsgerichtshof [VfGh] schnell als rechtswidrig aufgehoben. In einer neuen Novelle 2001 wurde geschickter eine „angemessene Verpflegung“ vorgeschrieben, die von den meisten Einrichtungen mit 6 Euro pro Tag interpretiert wurde.

2001 und 2002 hatte der VfGh in Einzelverfahren bereits festgestellt, dass für eine angemessene Verpflegung zwischen 11,3 und 13,6 Euro pro Tag erforderlich sind. Seitens des Innenministeriums und der von ihr – im übrigen rechtswidrig – beauftragten Zivildienstverwaltungs GesmbH (einem Privatunternehmen des Roten Kreuzes) wurden die Beschwerdeverfahren endlos in die Länge gezogen. Bis der VfGh diese Praxis durch ein Erkenntnis im Oktober 2005 beendete, das die schon vorher getroffenen Entscheidungen unterstützte und 13,6 Euro als Richtsatz festsetzte. Im Februar wurde darauf von der Bundesministerin für Inneres eine neue Verordnung zur Verpflegung von Zivis erlassen. [i]

Politische Spielchen

Fast parallel dazu beriet die Zivildienst-Reformkommission bis Jänner 2005 über die Erneuerung des Zivildienstwesens. Dabei wurde von der Jungen ö–VP ein „Zivildienerbund“ gegründet, der nie tätig wurde, aber von der ö–VP ins Feld geführt wurde, „um die Position der kritischen Zivildienervertreter bei der Zivildienst-Reformkommission zu schwächen“, wie Florian Seidl, stv. Obmann der Plattform für Zivildiener, bemerkt. Ein weiteres Beispiel für die „schmutzigen Methoden die rechtskonservative Regierung gegen die Interessen der Zivildiener“, so Seidl. Erfolgreich wurde auch die Schaffung einer gesetzliche Standesvertretung für Zivildiener verhindert, die damit immer noch keine gesetzlich anerkannte Stimme haben.

Als sich mit dem Spruch des VfGh eine Lösung der Verpflegungsgeldfrage anbahnte, sprangen die meisten politischen Parteien auf den Zug auf. Die Grünen präsentierten Formulare, mit denen Zivis endlich zu ihrem Recht kommen könnten (Formulare, die die Plattform für Zivildiener schon seit langem zur Verfügung gestellt hatte). Den Vogel schoss jedoch Norbert Darabos ab, indem er gleich eine „Geld-zurück-Garantie“ abgab: „Konkret werde man bei einem SPö–-Kanzler ohne Wenn und Aber die Differenz auf diese 13,60 Euro rückwirkend ab dem Jahr 2001 an alle ausbezahlen, die seither ihren Zivildienst abgeleistet haben“.[ii] Der Anfang einer langen Reihe von Instrumentalisierung der Zivis durch PolitikerInnen, man war auf Stimmenfang aus – schon mit Blick auf die Wahlen im Oktober. Im aktuellen Kontext der Regierungsbildung fordern SPö– und Grüne eine Fristverlängerung für Nachzahlungsanträge, gegen die Meinung der ö–VP. Es scheint um klare Positionen zu gehen, oder nicht ?

Das Zivildienst öœbergangsrecht

Interessant also, dass trotz aller Rhetorik im März 2006 das Zivildienst-öœbergangsrecht von allen Parteien einstimmig verabschiedet wurde. Im öœbergangsrecht werden erstmals die vom VfGh konstatierten 13,6 Euro akzeptiert, im gleichen Atemzug wird aber ein System zur Berechnung von Abschlägen konstruiert. Ferner wurde der 29.09.2006 als Frist zur Geltendmachung von Ansprüchen eingeführt – alle bis dahin nicht eingebrachten Anträge würden verfallen.[iii] Man wollte das Thema ein für alle Mal vom Tisch haben. Wie Florian Seidl, ausführt konstruiert das öœbergangsrecht „einen Hindernisparcours für den Zivildiener, der um sein Recht kämpft. Unklare Zuständigkeiten und heimtückische Fristen führen dazu, dass viele Zivis um ihr Geld umfallen. Das Verfahren ist umständlich und intransparent. Zivis werden abgeschreckt, nehmen gutgläubig die Angebote der Einrichtungen an oder erfahren nie, dass ihre Fristen schon längst abgelaufen sind.“

Einmal nachrechnen…

Nicht umsonst wurde diese kafkaeske Rechtskonstruktion ersonnen, geht doch um viel Geld. Im Gesetz sind für die Nachzahlungen 100 Mio Euro veranschlagt (Studiengebühren machen etwa 140 Mio/Jahr aus). Wie Seidl ausführt, sind die Nachzahlungen um die Hälfte zu niedrig, woraus sich eine Ersparnis von mindestens 100 Mio Euro für Staat und Trägerorganisationen ergibt, wobei noch diejenigen dazu kommen, die keine Anträge stellen oder ihre Fristen versäumen.

Konkret zahlen die Einrichtungen den Zivis den Betrag nach, den sie vom Staat überwiesen bekommen – höhere Ansprüche werden geleugnet und es entstehen den Trägerorganisationen de facto keine Kosten. So werden einem Zivi vom Roten Kreuz beispielsweise etwa 1400 Euro angeboten – nur die Hälfte des Betrags, der ihm (inklusive rechtsüblicher Zinsen) zustehen würde.

Aus ökonomischen Zwängen nehmen die meisten Zivis die zu niedrigen Angebote an. Der Standard meldet, dass 2 Tage vor Eingabeschluss 50% der Zivis die zu niedrigen Angebote der Einrichtungen angenommen hätten und bereits 23,5 Millionen Euro ausbezahlt worden seien.[iv] Stimmen diese Zahlen, so liegen die realen Auszahlungen sogar nur bei 25% der tatsächlich zustehenden Summe (siehe Grafik).

Ware Zivildiener

Die Behandlung der Zivildiener entspricht ganz der neoliberalen Warengesellschaft, in der sie ihre Arbeit leisten. Zivildiener verkaufen ihre Arbeitskraft zu lächerlichen Preisen und werden wie Waren gehandelt. Vom Individuum und seinen Bedürfnissen wird dabei völlig abstrahiert, es bleibt ein Verschieben von Rechnungsposten. Mitspracherecht wird der Ware Zivi abgesprochen, ebenso ihre faktische Bedeutung für die Gesellschaft (Fredy Mayer vom Roten Kreuz: „Das Rote Kreuz braucht überhaupt keine Zivildiener.“[v]).

Durch die eklatante Benachteiligung der Zivildiener entsteht jedoch bei vielen ein Bewusstsein der Missstände und dieses mündet nicht selten in politische Initiative, sei es am eigenen Dienstort oder überregional (wie beispielsweise die Plattform für Zivildiener).

Ob die SPö– ihre überschwänglichen Versprechen halten wird bleibt fraglich. Letzten Endes wird der Kampf der Zivis um faire Behandlung jedoch weitergehen !

Weblinks:
www.zivildienst.at
www.zivildienstverwaltung.at

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien und Konstanz

[i] Der Text der Verpflegungsgeldverordnung ist abrufbar unter: http://ris1.bka.gv.at/Authentic/findbgbl.aspx?name=entwurf&format=pdf&docid=COO_2026_100_2_256372

[ii] http://news.orf.at/ticker/200229.html

[iii] Text des Parlamentsbeschlusses zum öœbergangsrecht: http://www.parlament.gv.at/pls/portal/docs/page/PG/DE/XXII/I/I_01343/FNAMEORIG_058005.HTML

[iv] http://derstandard.at/?id=2602021

[v] http://www.roteskreuz.at/1685.html

Veröffentlicht in UNITAT November 2006, S. 3

Statt der Erinnerungen nur noch Spuren

Mit Orhan Pamuk wurde der Favorit für den Literaturnobelpreis 2006 ausgezeichnet, ein Autor des europäisch-türkischen Dialogs. Eine Entscheidung der Akademie, die wie andere vor ihr auch ein politisches Statement darstellt.

Als am 12.10.2006 um 6:50 Pamuks Telefon klingelte, befand er sich fast noch im Bett. Der Sekretär der Schwedischen Akademie teilte ihm „höflich, sehr formell, sehr korrekt“ die Zuerkennung des Nobelpreises mit. Pamuk antwortete, dass er sich „sehr geehrt fühle.“ Der Geehrte wurde 1952 geboren und wuchs in einer wohlhabenden, westlich orientierten Familie in Istanbul auf – der Stadt, die seinen Lebensmittelpunkt und gleichzeitig Thema wie Kulisse seiner Bücher bildet. Nach seinem Architektur- und Journalismusstudium widmete er sich ausschließlich dem Schreiben. Lange Zeit nicht explizit politisch aktiv, wurde er einer breiten ö–ffentlichkeit 2005 durch die Kontroverse um sein Buch „Schnee“ und seine Kritik am Umgang der türkischen Regierung mit dem Genozid an KurdInnen und ArmenierInnen bekannt. Die türkische Rechte startete drauf eine Hetzkampagne gegen ihn und er wurde wegen „öffentlicher Herabsetzung des Türkentums“ angeklagt – das Verfahren wurde im Januar 2006 eingestellt.

Verwobene Bilder Pamuk ist eher Autor des Dialogs, in seinen Werken verwebt er Bilder von Ost und West vor dem Hintergrund eines liebevollen, teils wehmütigen Blickes auf seine Heimat. In der Begründung der Akademie heißt es, er habe „auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Heimatstadt neue Sinnbilder für Streit und Verflechtung der Kulturen gefunden“. Seine ProtagonistInnen bewegen sich in einem Kosmos von Symbolen und Zitaten auf der Suche nach Identität und Heimat. Wie Galip, Hauptperson in „Das schwarze Buch“, zerrinnen ihnen die als sicher geglaubten Bilder und Erinnerungen, sind leer geworden. Als ein rätselhaftes Gewirr von Zeichen stellt sich das Istanbul Galips dar, das den Anschluss an ein historisches Erbe nicht geschafft hat und sich damit selbst verlor. Pamuk ist jedoch ein Brückenbauer, der – wie die SZ schrieb – „das Erzählen von östlichen Gegenständen in den literarischen Formen des Westens wie auch das Erzählen von den Errungenschaften des Westens in den Gedankenfiguren des Ostens“ kultiviert.

Entscheidungspolitik Die Schwedische Akademie ist für ihre oft umstrittenen und auch als politische Statements intendierten Entscheidungen bekannt. Bisweilen wird prononciert politischen AutorInnen der Vorrang gegenüber literarischen StilistInnen eingeräumt (so ging auch dieses Jahr der große arabische Dichter Adonis leer aus).
Mit Orhan Pamuk wurde ein Autor des Dialogs zwischen Ost und West geehrt, der sich (wie in der Friedenspreisrede) klar zur Zusammengehörigkeit von Europa und der Türkei bekennt. Letztes Jahr wurde mit Harold Pinter ein Exponent eines im wesentlichen überlebten Dramenkonzeptes geehrt, jedoch auch ein spitzer politischer Kritiker Tony Blairs und vehementer Gegner des Irakkrieges. Die Ehrung Elfriede Jelineks 2004 war ebenfalls eine Stellungnahme für gesellschaftlich engagierte Literatur, die rechte Umtriebe nicht schweigend zur Kenntnis nimmt. Unvergessen auch die Ehrung für Dario Fo (und seine Nobelpreisrede!) im Jahr 1997, einen der lautesten und gleichzeitig geistreichsten Gegner des „italian way of politics“.

Zurück zum Erzählen ? Mit der Ehrung Pamuks mag sich auch ein Richtungswechsel in der Vergabe des Literaturnobelpreises ankündigen. Ende des Jahres werden zwei Mitglieder der Schwedischen Akademie neu aufgenommen – ein Schriftsteller und eine Schriftstellerin. So mag die Auszeichnung Pamuks auch für eine Rückkehr hin zu Geschichten stehen, ein Bekenntnis zum Erzählen als identitätsstiftender Praktik. Aber auch ein Signal für eine Nobelpreispolitik, die sich den Vielen zuwendet, die AutorInnen unterstützt, die im Schaffen begriffen sind und für eine breite LeserInnenschaft zugänglich sind. Sicher ist jedenfalls, dass der Literaturnobelpreis am 10. Dezember feierlich verliehen wird.

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien und Konstanz

Weblinks:
www.nobelprize.org
www.orhanpamuk.net

(veröffentlicht in PROGRESS 07/06, S. 29)