Mit Orhan Pamuk wurde der Favorit für den Literaturnobelpreis 2006 ausgezeichnet, ein Autor des europäisch-türkischen Dialogs. Eine Entscheidung der Akademie, die wie andere vor ihr auch ein politisches Statement darstellt.
Als am 12.10.2006 um 6:50 Pamuks Telefon klingelte, befand er sich fast noch im Bett. Der Sekretär der Schwedischen Akademie teilte ihm „höflich, sehr formell, sehr korrekt“ die Zuerkennung des Nobelpreises mit. Pamuk antwortete, dass er sich „sehr geehrt fühle.“ Der Geehrte wurde 1952 geboren und wuchs in einer wohlhabenden, westlich orientierten Familie in Istanbul auf – der Stadt, die seinen Lebensmittelpunkt und gleichzeitig Thema wie Kulisse seiner Bücher bildet. Nach seinem Architektur- und Journalismusstudium widmete er sich ausschließlich dem Schreiben. Lange Zeit nicht explizit politisch aktiv, wurde er einer breiten ö–ffentlichkeit 2005 durch die Kontroverse um sein Buch „Schnee“ und seine Kritik am Umgang der türkischen Regierung mit dem Genozid an KurdInnen und ArmenierInnen bekannt. Die türkische Rechte startete drauf eine Hetzkampagne gegen ihn und er wurde wegen „öffentlicher Herabsetzung des Türkentums“ angeklagt – das Verfahren wurde im Januar 2006 eingestellt.
Verwobene Bilder Pamuk ist eher Autor des Dialogs, in seinen Werken verwebt er Bilder von Ost und West vor dem Hintergrund eines liebevollen, teils wehmütigen Blickes auf seine Heimat. In der Begründung der Akademie heißt es, er habe „auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Heimatstadt neue Sinnbilder für Streit und Verflechtung der Kulturen gefunden“. Seine ProtagonistInnen bewegen sich in einem Kosmos von Symbolen und Zitaten auf der Suche nach Identität und Heimat. Wie Galip, Hauptperson in „Das schwarze Buch“, zerrinnen ihnen die als sicher geglaubten Bilder und Erinnerungen, sind leer geworden. Als ein rätselhaftes Gewirr von Zeichen stellt sich das Istanbul Galips dar, das den Anschluss an ein historisches Erbe nicht geschafft hat und sich damit selbst verlor. Pamuk ist jedoch ein Brückenbauer, der – wie die SZ schrieb – „das Erzählen von östlichen Gegenständen in den literarischen Formen des Westens wie auch das Erzählen von den Errungenschaften des Westens in den Gedankenfiguren des Ostens“ kultiviert.
Entscheidungspolitik Die Schwedische Akademie ist für ihre oft umstrittenen und auch als politische Statements intendierten Entscheidungen bekannt. Bisweilen wird prononciert politischen AutorInnen der Vorrang gegenüber literarischen StilistInnen eingeräumt (so ging auch dieses Jahr der große arabische Dichter Adonis leer aus).
Mit Orhan Pamuk wurde ein Autor des Dialogs zwischen Ost und West geehrt, der sich (wie in der Friedenspreisrede) klar zur Zusammengehörigkeit von Europa und der Türkei bekennt. Letztes Jahr wurde mit Harold Pinter ein Exponent eines im wesentlichen überlebten Dramenkonzeptes geehrt, jedoch auch ein spitzer politischer Kritiker Tony Blairs und vehementer Gegner des Irakkrieges. Die Ehrung Elfriede Jelineks 2004 war ebenfalls eine Stellungnahme für gesellschaftlich engagierte Literatur, die rechte Umtriebe nicht schweigend zur Kenntnis nimmt. Unvergessen auch die Ehrung für Dario Fo (und seine Nobelpreisrede!) im Jahr 1997, einen der lautesten und gleichzeitig geistreichsten Gegner des „italian way of politics“.
Zurück zum Erzählen ? Mit der Ehrung Pamuks mag sich auch ein Richtungswechsel in der Vergabe des Literaturnobelpreises ankündigen. Ende des Jahres werden zwei Mitglieder der Schwedischen Akademie neu aufgenommen – ein Schriftsteller und eine Schriftstellerin. So mag die Auszeichnung Pamuks auch für eine Rückkehr hin zu Geschichten stehen, ein Bekenntnis zum Erzählen als identitätsstiftender Praktik. Aber auch ein Signal für eine Nobelpreispolitik, die sich den Vielen zuwendet, die AutorInnen unterstützt, die im Schaffen begriffen sind und für eine breite LeserInnenschaft zugänglich sind. Sicher ist jedenfalls, dass der Literaturnobelpreis am 10. Dezember feierlich verliehen wird.
Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien und Konstanz
Weblinks:
www.nobelprize.org
www.orhanpamuk.net
(veröffentlicht in PROGRESS 07/06, S. 29)