Der Nobelpreis 2008 geht an den französischen Autor Jean-Marie Gustave Le Clö©zio. Hierzulande ein eher unbekannter Autor, wird er in Frankreich hoch gefeiert. Das Portrait eines Autors, der versucht die Utopie eines Ortes jenseits von kulturellen und nationalen Grenzen zu entwerfen – und dabei auf kontroverse Rezeption stößt.
Alle Jahre wieder – fast zeitgleich mit der Ankunft des Weihnachtsmannes – wird der Nobelpreis verliehen. Normalerweise überschlagen sich der Literaturbetrieb dann mit Stellungnahmen und Diskussionen. Dieses Jahr waren die Herren und Damen etwas kleinlaut, weil ein in unseren Breiten eher unbekannter Autor den Preis erhielt: Der 1940 geborene Jean-Marie Gustave Le Clö©zio. Und so musste selbst ein Marcel Reich-Ranicki mit einer Stellungnahme passen. Einige fanden sich dann doch: Josef Winkler konnte sich dunkel erinnern, dass ihn „vor einigen Jahrzehnten“ die französische Moderne und Le Clö©zio „sehr beeindruckt“ hatten. Mehr Worte fand da schon Frankreichs Präsident Sarkozy und überschlug sich in seiner Begeisterung fast: „Le Clö©zio ist ein Weltbürger, Sohn aller Kontinente und Kulturen. Als Weltreisender verkörpert er in einer globalisierten Welt die Ausstrahlung Frankreichs, seiner Kultur und seiner Werte und macht der Frankophonie alle Ehre.“ Ob Le Clö©zio selbst mit einer solchen Inanspruchnahme für französische Großmachtsphantasien glücklich ist, steht wohl auf einem anderen Blatt.
Zwischen Kulturen zu leben ist eine Grunderfahrung des 68jährigen Autors – das Leben und Reisen zwischen Kontinenten und Kulturen prägt sein Werk. Sein schriftstellerisches Grunderlebnis soll dabei auf eine Reise nach Nigeria zu seinem Vater zurückgehen, auf der der 7jährige Jean-Marie Gustave die Eindrücke sammelte, die er später in Der Afrikaner verarbeitete. Neben der Insel Mauritius, der er durch seine Familie verbunden ist, lebte Le Clö©zio später in den USA und Thailand. Dort hatte er 1967 auch seinen Militärdienst angetreten, wurde aber aufgrund seines Auftretens gegen Kinderprostitution nach Mexiko versetzt. Von 1970 an lebte und arbeitete er einige Jahre für das französische Panama-Institut mit südamerikanischen Indianern – ein Erlebnis, das sein Schreiben nachhaltig prägte. Sein Interesse für die gesellschaftlichen Ränder, aber auch für verdrängte Mythologien und ein Leben im Einklang mit der Erde wurde in dieser Zeit geweckt. Das Werk des Vielschreibers (Le Clö©zio verfasste über 30 Romane, Erzählungen und Essays) wurde in Frankreich wiederholt mit hohen Ehrungen bedacht.
Ein „sehr verspäteter Romantiker“ sei JMG Le Clö©zio, argumentiert indes Sigrid Löffler. Sie kritisiert die Wahl als „einigermaßen bizarr“. Löfflers Kritik trifft dabei einen Punkt: „Er hat eine ziemlich natur-mystische Denkweise, die stille Betrachtung von Naturschönheit liegt ihm, glaube ich, mehr als irgendwelche gesellschaftlichen Befindlichkeiten. Das ist in unserer Zeit, in unserer Literatur, schon etwas befremdlich.“ Diese romantische Sehnsucht nach einer nichtentfremdeten Welt, jenseits der Zivilisation wird sehr schön in den ersten Sätzen des Romans Der Goldsucher fassbar. „Immer, soweit ich zurückdenken kann, hab ich das Meer gehört“ – so beginnt ein Roman, in dem das Rauschen der Wellen, Schweißtropfen am Rücken und die Sonne am Himmel ein Gefühl auslösen, „ruhelos, erfüllt von einer Sehnsucht, die ich nicht begreife.“ Mag man Le Clö©zio etwas vorwerfen, ist es just jenes Versenken in die Zustände und Naturkulissen – die ihn vielleicht für manch andere Probleme blind werden lässt.
Das Lob der Akademie gilt „dem Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase, dem Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation“ – wie es in der Begründung der Preisverleihung heißt. Die Entscheidung dürfte jedoch auch andere Gründe haben: So wie mit Harold Pinter 2005 ein prononcierter USA-Kritiker ausgezeichnet wurde, dürfte auch bei der aktuellen Entscheidung eine gewisse antiamerikanische Haltung eine Rolle gespielt haben. In der Woche vor der Vergabe gab der ständige Sekretär der Akademie, Horace Engdahl, ein Interview, in dem er Schriftsteller aus den USA als „zu isoliert und unwissend“, um große Literatur schreiben zu können bezeichnete. Sie wären „zu empfänglich für Trends in der Massenkultur“. Ob Le Clö©zios mythische Utopie eine echte Alternative dafür darstellt – davon machen sich Leser/-innen am Besten selbst ein Bild. Der Nobelpreis wird am 7. Dezember feierlich übergeben.
Timon Jakli studiert Doktorat Germanistik in Wien
Veröffentlicht in PROGRESS 6/08