Vermischte Photos

Für alles, das sonst nirgends ein Plätzchen gefunden hat…

Tanz
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Blume
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Dorffriedhof
Dorffriedhof
Infrarot
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Epihon
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Jazzfeeling
Jazzfeeling
Schraube locker?
Schraube locker?
Regler
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Mechanik
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Schmetterling
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Pelikanfeder
Pelikanfeder

Die Utopie eines anderen Orts

Der Nobelpreis 2008 geht an den französischen Autor Jean-Marie Gustave Le Clö©zio. Hierzulande ein eher unbekannter Autor, wird er in Frankreich hoch gefeiert. Das Portrait eines Autors, der versucht die Utopie eines Ortes jenseits von kulturellen und nationalen Grenzen zu entwerfen – und dabei auf kontroverse Rezeption stößt.

Alle Jahre wieder – fast zeitgleich mit der Ankunft des Weihnachtsmannes – wird der Nobelpreis verliehen. Normalerweise überschlagen sich der Literaturbetrieb dann mit Stellungnahmen und Diskussionen. Dieses Jahr waren die Herren und Damen etwas kleinlaut, weil ein in unseren Breiten eher unbekannter Autor den Preis erhielt: Der 1940 geborene Jean-Marie Gustave Le Clö©zio. Und so musste selbst ein Marcel Reich-Ranicki mit einer Stellungnahme passen. Einige fanden sich dann doch: Josef Winkler konnte sich dunkel erinnern, dass ihn „vor einigen Jahrzehnten“ die französische Moderne und Le Clö©zio „sehr beeindruckt“ hatten. Mehr Worte fand da schon Frankreichs Präsident Sarkozy und überschlug sich in seiner Begeisterung fast: „Le Clö©zio ist ein Weltbürger, Sohn aller Kontinente und Kulturen. Als Weltreisender verkörpert er in einer globalisierten Welt die Ausstrahlung Frankreichs, seiner Kultur und seiner Werte und macht der Frankophonie alle Ehre.“ Ob Le Clö©zio selbst mit einer solchen Inanspruchnahme für französische Großmachtsphantasien glücklich ist, steht wohl auf einem anderen Blatt.

Zwischen Kulturen zu leben ist eine Grunderfahrung des 68jährigen Autors – das Leben und Reisen zwischen Kontinenten und Kulturen prägt sein Werk. Sein schriftstellerisches Grunderlebnis soll dabei auf eine Reise nach Nigeria zu seinem Vater zurückgehen, auf der der 7jährige Jean-Marie Gustave die Eindrücke sammelte, die er später in Der Afrikaner verarbeitete. Neben der Insel Mauritius, der er durch seine Familie verbunden ist, lebte Le Clö©zio später in den USA und Thailand. Dort hatte er 1967 auch seinen Militärdienst angetreten, wurde aber aufgrund seines Auftretens gegen Kinderprostitution nach Mexiko versetzt. Von 1970 an lebte und arbeitete er einige Jahre für das französische Panama-Institut mit südamerikanischen Indianern – ein Erlebnis, das sein Schreiben nachhaltig prägte. Sein Interesse für die gesellschaftlichen Ränder, aber auch für verdrängte Mythologien und ein Leben im Einklang mit der Erde wurde in dieser Zeit geweckt. Das Werk des Vielschreibers (Le Clö©zio verfasste über 30 Romane, Erzählungen und Essays) wurde in Frankreich wiederholt mit hohen Ehrungen bedacht.

Ein „sehr verspäteter Romantiker“ sei JMG Le Clö©zio, argumentiert indes Sigrid Löffler. Sie kritisiert die Wahl als „einigermaßen bizarr“. Löfflers Kritik trifft dabei einen Punkt: „Er hat eine ziemlich natur-mystische Denkweise, die stille Betrachtung von Naturschönheit liegt ihm, glaube ich, mehr als irgendwelche gesellschaftlichen Befindlichkeiten. Das ist in unserer Zeit, in unserer Literatur, schon etwas befremdlich.“ Diese romantische Sehnsucht nach einer nichtentfremdeten Welt, jenseits der Zivilisation wird sehr schön in den ersten Sätzen des Romans Der Goldsucher fassbar. „Immer, soweit ich zurückdenken kann, hab ich das Meer gehört“ – so beginnt ein Roman, in dem das Rauschen der Wellen, Schweißtropfen am Rücken und die Sonne am Himmel ein Gefühl auslösen, „ruhelos, erfüllt von einer Sehnsucht, die ich nicht begreife.“ Mag man Le Clö©zio etwas vorwerfen, ist es just jenes Versenken in die Zustände und Naturkulissen – die ihn vielleicht für manch andere Probleme blind werden lässt.

Das Lob der Akademie gilt „dem Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase, dem Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation“ – wie es in der Begründung der Preisverleihung heißt. Die Entscheidung dürfte jedoch auch andere Gründe haben: So wie mit Harold Pinter 2005 ein prononcierter USA-Kritiker ausgezeichnet wurde, dürfte auch bei der aktuellen Entscheidung eine gewisse antiamerikanische Haltung eine Rolle gespielt haben. In der Woche vor der Vergabe gab der ständige Sekretär der Akademie, Horace Engdahl, ein Interview, in dem er Schriftsteller aus den USA als „zu isoliert und unwissend“, um große Literatur schreiben zu können bezeichnete. Sie wären „zu empfänglich für Trends in der Massenkultur“. Ob Le Clö©zios mythische Utopie eine echte Alternative dafür darstellt – davon machen sich Leser/-innen am Besten selbst ein Bild. Der Nobelpreis wird am 7. Dezember feierlich übergeben.

Timon Jakli studiert Doktorat Germanistik in Wien

Veröffentlicht in PROGRESS 6/08

Einem Spracharbeiter – in memoriam

Der plötzliche Tod des Literaturwissenschaftlers Wendelin Schmidt-Dengler reißt ein großes Loch in die österreichische Kulturlandschaft. Einige Erinnerungen an den Professor, Wissenschaftler und Fußballfan.

Als ich meine letzte Prüfung an der Universität ablegte, stand für mich fest: Dort wo ich angefangen hatte, in einer Vorlesung von Prof. Schmidt-Dengler, sollte mein Studium auch enden. Die Prüfung verlief typisch für die geliebten und gefürchteten Schmidt-Denlgerschen Kolloquien: Zu Beginn sein entgeisterter Blick – unseren Termin hatte er vereinbart und gleich wieder vergessen. Zwischendurch also schnell zwei Fachkollegen in ein Zimmer gebracht und um 5 Minuten gebeten, nahm er die Prüfung ab (führte nebenbei zwei Telefongespräche und vereinbarte weitere Termine). Als ich ihm gegenüber saß, dann der scharfe Blick ins Gesicht und nach kurzem Innehalten: „Wir kennen uns doch?“ Gesichter vergaß er nicht, auch wenn man einander schon Jahre nicht mehr gesehen hatte.

Rastlos eilte der 1942 in Zagreb geborene Wendelin Schmidt-Dengler durch ein Leben mit und für Literatur. Nach seiner Schulzeit inskribierte er Latein, Griechisch und Germanistik – wobei er Literatur eigentlich nicht studieren, sondern als geheime Liebe für sich behalten wollte. Er dissertierte über Augustinus und habilitierte sich mit einem Thema über antike Mythologie. Seine umfassende Kenntnis der griechischen und lateinischen Literatur war stets beeindruckend, nicht zuletzt war das Verständnis von Literatur und Kultur vor ihrem antiken Hintergrund auch einer der bestimmenden Ansätze Schmidt-Dengler. 1966 wurde er Assistent am Institut für Germanistik der Universität Wien. In dieser Zeit beginnt er auch Literaturkritiken zu schreiben, zunächst aus Not heraus: „Man hat als Assistent nicht sehr viel verdient. Und beim Rundfunk gab es die Möglichkeit, für 600 Schilling eine Rezension zu schreiben und dann auch noch das Buch dafür zu kriegen.“ In dieser Zeit eignete sich Schmidt-Dengler sein legendäres Arbeitstempo an: „Ich habe mir vorgenommen, täglich 80 Seiten zu lesen – die Hälfte Belletristik und die Hälfte Wissenschaft – sowie ein bis zwei Typoskriptseiten pro Tag zu verfassen.“ Dabei hatte seine wissenschaftliche Karriere fast zufällig begonnen: Schmidt-Dengler freundete sich mit dem Sekretär Heimito von Doderers an, der ihm nach dem Tod des Schriftstellers den Nachlass zur Bearbeitung anvertraute. Doderer übrigens hatte Schmidt-Dengler auch noch kennengelernt und durch seine Kenntnisse der griechischen Literatur beeindruckt: Schmidt Dengler soll ein von Doderer vorgebrachtes Homer-Zitat auf Griechisch beendet und sich so die Gunst des alten Meisters zugezogen haben. 1980 wurde er Professor für Germanistik in Wien. Dort entfaltete „wsd“ (wie er Emails meist zeichnete) eine rastlose Tätigkeit: Als Professor und Institutsvorstand und prägte wesentlich den Ruf der Wiener Germanistik. Das Konzept einer österreichischen Literatur, jenseits von Blut und Boden Ideologie war eines seiner bleibenden Verdienste. Lange bevor die Aufarbeitung der eigenen Fachgeschichte en vogue war, machte Schmidt-Dengler kritisch auf die braune Vergangenheit der Wiener Germanistik unter Josef Nadler aufmerksam. Neben Lehraufträgen in ganz Europa war er seit 1996 Leiter des ö–sterreichischen Literaturarchivs. Einer breiten ö–ffentlichkeit wurde er als Literaturkritiker und Fußballexperte bekannt. Ein Jahr vor seinem Tod wurde Schmidt-Dengler als Wissenschaftler des Jahres ausgezeichnet. Am 7. September 2008 erlag er überraschend einer Lungenembolie.

Generationen von StudentInnen verschiedenster Fachdisziplinen kannten Wendelin Schmidt-Dengler als Prototyp des ruhelosen Gelehrten. In seinen Vorlesungen glühten die Kugelschreiber nur so, angesichts der Satzkaskaden vom Rednerpult. Doch dann: Immer wieder dieses Einhalten, Aufschauen. Seine freien Ausführungen waren nicht minder druckreif und oft von beeindruckendem Inhalt, wenn er beispielsweise die Odyssee auf Griechisch aus dem Gedächtnis zitierte. Oder lautstark in den Hörsaal hineinskandierte, die Elisabeth Gehrer sei „förmlich fleischgewordene Reform“ und „eine bekennende Analphabetin“. Und immer wieder betonte er eines: Der Literaturwissenschaftler sei ein professioneller Leser, man dürfe nicht dem politischen und intellektuellen Analphabetentum Tür und Tor öffnen. Bildung und nicht zuletzt auch Literatur hielt er geeignet, ein Bollwerk dagegen zu Bilden. So setzte sich Schmidt-Dengler in seinen letzten Lebensjahren intensiv für studentische Belange ein. Die Seifenblase der „Weltklasseuni“ und die Elitendebatte kommentierte er spitz und schloß sich studentischen Protesten gegen Bildungsabbau an. Legendär ist seine Vorlesung auf der Ringstraße, mit der er sich dem Protest gegen die Universitätsreform anschloß.

Ohne Gedichte könne er nicht leben, sagte Schmidt-Dengler einmal. Seine Liebe zur Literatur wirkte ansteckend – egal, ob er in einer Vorlesung ein Gedicht vortrug oder auf ö–1 über einen Autor/eine Autorin sprach. Diese Begeisterung für Literatur zu vermitteln war ihm ein großes Anliegen. „Wsd“ war ein Germanist der AutorInnen und widmete sich der Förderung der österreichischen Literatur, wie wohl kein anderer. Und das nicht nur, wie Elfriede Jellinek schrieb: „indem er die berühmten AutorInnen geschätzt und immer wieder analysiert und seinen StudentInnen nahegebracht hat, sondern auch in seiner Begeisterung für die Ränder der Literatur, ihre Außenseiter, die eigentlich die wichtigsten in jeder Literatur, in jeder Kunst sind.“ Als Literaturkritiker vermittelte er die Freude an Sprache und Literatur auch einer breiten ö–ffentlichkeit und schaute dabei über den eigenen Tellerrand – mit der Interpretation von Grönemeyer Liedtexten oder als Fußballkommentator. Der Fußball war für den passionierten Rapid Fan überhaupt zentral, das Theater der Antike in neuer Form. Angeblich machte er bisweilen sogar den aktuellen Stand der Bundesliga zum Prüfungsstoff seiner mündlichen Kolloquien. Für seine geliebten Spiele im Stadion, das sei ihm zu wünschen, hat er nun wohl den besten Platz. In St. Hanappi und an der Universität wird er fehlen.

Timon Jakli studiert Germanistik in Wien

Veröffentlicht in PROGRESS 5/08

Zehn Wahrheiten

Die Wahrheit ist so eine Sache und auch schon die Doors sangen: „People are strange when youre a stranger.“ Diese beiden Gemeinplätze treffen sich in Zehn Wahrheiten, einer Sammlung von 16 Stories des amerikanischen Multitalents Miranda July. Die 1974 geborene Künstlerin macht auch Filme (Ich und du und alle, die wir kennen), ist Schauspielerin und nicht zuletzt Schriftstellerin. Also: People are strange. Miranda Julys Erzählwelten sind bevölkert von zerbrechlichen, melancholischen und latent autistischen Figuren auf der Suche nach menschlicher Nähe. Die Stories erzählen von heimlichem Begehren, verdrängter Sexualität, unerfüllter Liebe und Einsamkeit – kurzum von Menschen, die auf ein neues Leben warten. Ein Leben, das doch nie kommt, aber an brüchigen Stellen wild hervorbricht. July erzählt diese Geschichten mit wunderbarer Lakonie und trockenem Humor, ohne ihre (hauptsächlich weiblichen) Figuren je bloßzustellen. Die Stories erzählen in verschiedenen Variationen, dass die Wahrheit im Suchen nach einem Ort der Nähe besteht, einer Nähe die sich vielleicht nur kurz und für einen verwirrenden Moment festhalten lässt. Oder wie es in einer der Geschichte heißt: „Alles, was wir tun, tun wir um anderer Menschen Willen. Weil wir sie leiben. Oder weil wir sie eben nicht lieben.“ Darüber hinaus lassen einen die Stories mit einer eigenartigen Stille allein, in die hinein sich die Frage drängt, ob es einem selbst nicht auch so ergeht. Dieses Moment der existentiellen Unsicherheit steckt in jeder ihrer Erzählungen, weshalb der Konsum in kleinen Dosen zu empfehlen ist. TJ

Veröffentlicht in PROGRESS 4/08

Lebens-wert?

Mit der Entstehung der modernen Humangenetik wurde auch der Traum einer gesunden, starken Menschheit geboren. Ein Traum der bald in einen Albtraum umschlug. Die Umsetzung eugenischer Maßnahmen in der NS-Zeit und danach kostete hunderttausende Menschenleben. Am Grunde des Albtraumes wurden grundsätzliche Fragen über den Wert des menschlichen Lebens freigelegt.

Die ersten Assoziationen mit dem Begriff Eugenik sind meist negativ und wecken Erinnerungen an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Wörtlich bedeutet Eugenik „gutes/schönes Geschlecht“. Der Begriff entstand aus der Anwendung humangenetischer Erkenntnisse auf die Gesellschaft. Mit ihm werden Maßnahmen zur Verbesserung des Erbanlagenbestandes einer Population bezeichnet. Doch Eugenik ist keine Erfindung des Nationalsozialismus, sondern hat eine Vorgeschichte und auch eine Fortsetzung.

Die Anfänge Ende des 19. Jahrhunderts begann man in Biologie, Medizin und ö–konomie nach den Kosten und dem Nutzen des Einzelnen für die Gesellschaft zu fragen. Francis Galton beschäftigte sich mit Vererbung und übertrug die Lehre Darwins auf die Sozialpolitik, wofür er 1883 den Begriff Eugenik einführte. Der Sozialdarwinismus lehrte, die moderne Medizin und Sozialfürsorge würden eine „Gegenauslese“ bewirken und zur „Vermehrung der Hilfsbedürftigen“ beitragen. Damit verbunden war die Theorie, „entartete“ Menschen würden sich überdurchschnittlich schnell fortpflanzen und langfristig die „gesunden“ Menschen verdrängen. Im Gegensatz dazu sollte eine künstliche Selektion „fortpflanzungswürdiges“ Leben und die „Eigenschaften der Rasse“ fördern sowie die Entwicklung einer „hochbegabten Menschenrasse“ unterstützen. Diese Debatten wurden im Ersten Weltkrieg angeheizt, als von „Menschenmaterial“ die Rede war und die Gesellschaft mit dem Ausfall einer ganzen Generation junger Männer konfrontiert war. Durch Erwägung der Kosten für die Pflege Kranker und Behinderter in Relation zu den Toten an der Front unterstrichen die Sozialbiologen ihre Argumente.

Auslese und Ausmerze Die Eugeniker lassen sich grob in zwei Gruppen teilen. Die Vertreter der „positiven“ Eugenik befürworten die „Auslese“ von Leben, während die „negative“ Eugenik die „Ausmerze“ von „lebensunwerten“ Menschen zum Ziel hat. Jedoch näherten sich die Richtungen aneinander an, wenn es um Mittel wie Sterilisation, Abtreibung und Tötung „entarteter“ Menschen ging. Die Klassifikation von „entartet“ oder „lebensunwert“ folgte dabei einer kruden Mischung aus Moralismus, Rassentheorie und Naturwissenschaft; so schlossen diese Begriffe Kranke, Alkoholabhängige, moralisch verdächtige Personen, sozial Schwache oder weniger Begabte ein. Immer mehr fand auch der Gedanke einer wertvollen und reinen „nordischen Rasse“ in den Diskurs Eingang – und damit der Begriff der „Rassenhygiene“. Dabei war Eugenik nicht nur Sache der Rechten: Auch in der Sozialdemokratie fanden sich Befürworter für eugenische Maßnahmen, wie beispielsweise Julius Tandler.

Der Nationalsozialismus setzte die Forderungen der Soziobiologie radikal um. Bereits vor 1933 hatten zahlreichen Staaten eugenische Maßnahmen (Eheverbote, Sterilisierungsgesetze) implementiert, darunter die USA, Dänemark und die Schweiz. Doch im nationalsozialistischen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wird betont: „Jedenfalls hat bisher kein Staat der Welt den Mut gehabt, die Sterilisierung von erbkranken Personen umfassend gesetzlich zu regeln.“ Die „umfassende“ Regelung bestand in der Sterilisierung von fast 400.000 Menschen in Deutschland und 10.000 Menschen in ö–sterreich, wobei hier in hohem Maße soziale Diagnostik betrieben wurde: 50% der Anträge wurden aufgrund von „Schwachsinn“ gestellt, in Landgebieten sogar bis zu 80%. Die zynisch mit „Euthanasie“ (schöner Tod) bezeichnete Tötung von über 5.000 geistig und körperlich behinderten Kindern und Babies war die weitere Konsequenz dieses Denkens. Durch einen Erlass Hitlers wurde 1939 die Euthanasie von geistig und körperlich behinderten Erwachsenen in Gang gesetzt (Aktion T4). Aufgrund massiver Proteste wurde diese Aktion jedoch abgebrochen und dezentral weitergeführt. Die Zahl der Euthanasieopfer wird für ö–sterreich auf 25.000 geschätzt. Von der Bewertung menschlichen Lebens nach Kosten-Nutzen und der Rassenhygiene führt eine direkte Linie zur Shoah und der Ermordung von über 6.000.000 Juden und Jüdinnen.

Globales Phänomen Eugenische Praktiken und Gesetze waren und sind jedoch nicht ein auf die NS-Zeit beschränktes Phänomen. Auch nach 1945 wurden in ganz Europa eugenische Maßnahmen praktiziert. So wurden in Deutschland bis 1992 jährlich etwa 1000 geistig behinderte Frauen ohne ihre Einwilligung sterilisiert. Möglich wurde das durch eine gesetzliche Regelung, die Zwangssterilisation erst ab dem 18. Lebensjahr verbot. Auch in den USA wurden bis 1974 zahlreiche kranke oder behinderte Menschen, Straftäter und Afroamerikaner sterilisiert. In Schweden bestand das Sterilisationsgesetz von 1941 unverändert bis 1975, in diesem Zeitraum wurden über 60.000 Menschen – vornehmlich Frauen – ohne Einwilligung unfruchtbar gemacht. ö„hnlich lange bestanden die Regelungen auch in anderen skandinavischen Ländern. Auch in der Schweiz wurden bis in die 1980er Jahre hinein zwangsweise Sterilisationen vorgenommen.

Ein heikles Thema ist Eugenik auch heute noch. So sieht das österreichische Recht vor, dass wenn „eine ernste Gefahr besteht, daß das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde“ ein Schwangerschaftsabbruch bis unmittelbar vor der Geburt möglich sei (StGB §97). KritikerInnen sehen darin eine Verletzung des grundsätzlichen Schutzes und Wertes von Leben, während BefürworterInnen hier Frauenrecht verankert sehen. Mit der modernen Humangenetik wurde ein weites Feld offener medizinethischer Fragen eröffnet. Schnell kommen dabei Argumente in die Nähe des sozialbiologischen Kosten-Nutzen Denkens. Auch in Debatten über Sterbehilfe oder die Finanzierung des Gesundheitssystems wird immer wieder gefragt, ob sich intensive Behandlung alter Menschen überhaupt lohne. Diese Diskurse zeigen, dass das Thema Eugenik in seiner Brisanz keineswegs vom Tisch ist. Die historische Erfahrung sollte uns aber lehren, wie gefährlich die Erwägung von Kosten und Wert menschlichen Lebens ist und wie viel Vorsicht bei diesem Thema geboten ist.

Timon Jakli studiert Germanistik und Geschichte in Wien

Veröffentlicht in PROGRESS 4/08

Politische Spielchen

Die EURO 2008 und die Olympischen Spiele in Peking rücken immer näher. Sport soll unpolitisch und universal sein – doch nur allzu oft hält sich die große und kleine Politik nicht an dieses Diktum. Warum Politik eine Affinität zu Sport hat und wie diese Beziehung in der Vergangenheit aussah untersucht Timon Jakli

Bei großen Sportereignissen wird meist die Universalität und Unparteilichkeit des sportlichen Wettkampfes betont. So stehen die Olympischen Spiele in Peking unter dem Motto „One World One Dream“. Der Slogan bringe „the common wishes of people all over the world […] to strive for a bright future of Mankind“ zum Ausdruck. Der Sport wird als völkerverständigendes Paradigma gepriesen: „In spite of the differences in colors, languages and races, we share the charm and joy of the Olympic Games, and together we seek for the ideal of Mankind for peace.“

Von der Realität eingeholt werden diese hehren Ideale nur zu oft, wie die aktuellen Proteste in Tibet und die Störungen des olympischen Fackellaufes zeigen. Denn Sport bietet nicht nur eine Plattform für Verständigung, sondern auch eine weltumspannende Bühne für politische Manifestationen. Durch die Beliebtheit des Sports können sehr viele Menschen erreicht werden, auch solche die sich sonst weniger für politische Anliegen interessieren mögen. So verwundert es dann nicht, dass manche PolitikerInnen schon immer Fußballfans waren, sich in Stadien auf den Ehrentribünen zeigen oder sich freudestrahlend mit SportlerInnen fotografieren lassen. Dabei werden Universalität und Völkerverständigung in einem Atemzug mit dem patriotischen Bekenntnis zur eigenen Nation genannt.

Politische Konflikte finden ihren Weg in die Welt des Sports und werden dort transformiert nach der Logik des Spielfeldes ausgetragen. Ein Beispiel dafür ist Jugoslawien Ende der 1980er Jahre. Lange bevor der Krieg begann, hatten sich die Fußballfans radikalisiert und in nationale Lager aufgespalten. Der kroatische Schriftsteller Predrag Matvejevitch beschreibt: „Der Krieg, der ganz Ex-Jugoslawien in Blut getaucht hat, kündigte sich schon in den Fußballstadien an.“ Ganz anders lief das Spiel USA gegen Iran 2006 ab, bei dem es vor dem Spiel zu freundschaftlichen Gesten der Mannschaften kam.

Direkte politische Kundgebungen finden sich auch in der Welt des Sports wieder. So wurde die Olympiade 1936 von den Nationalsozialisten als ideologische Bühne missbraucht. Durch die gegenseitige Boykottierung der Olympiade 1980 in Moskau und 1984 in Los Angeles fand der Kalte Krieg auch im Sport seinen Austragungsort. Den traurigen Höhepunkt politischer Vereinnahmung bildet sicher der palästinensische Anschlag in München 1972. Jedoch hat die Verknüpfung von Sport und Politik auch positives Potential. Das zeigt der Protest von Tommie Smith und John Carlos bei der Olympiade in Mexiko 1968. Bei der Siegerehrung hoben die schwarzen Läufer während der Amerikanischen Nationalhymne ihre Fäuste und machten das Symbol der Black Power Bewegung – ein aufrüttelndes Zeichen für die Zivilgesellschaft der USA. Angesichts der aktuellen Diskussionen um Olympia 2008 in Peking bleibt zu hoffen, dass auch hier positive Zeichen gesetzt werden können.

Timon Jakli studiert Germanistik in Wien

Veröffentlicht in PROGRESS 3/08

Ein Bad im Weichzeichner

Die großen Geschichten des Lebens sind meist schnell erzählt: Ein Mann trifft eine Frau. Sie verlieben sich. Die restlichen 250 Seiten liefern nur das Beiwerk dazu. ö„hnlich läuft es auch in Iris Hanikas Roman Treffen sich zwei ab. Was am Klappentext als „Liebesroman für Erwachsene und ein Heimatroman aus Berlin-Kreuzberg“ angekündigt wird, klingt zu Anfang auch ganz gewöhnlich. Senta, eine gescheiterte Geisteswissenschaftlerin, die nahe am Wasser gebaut ist und deren Gedanken wie ein schlechter Liebesroman funktionieren, trifft in einem Queer-Cafe Thomas, einen nicht ganz jungen und nicht sehr attraktiven Systemberater. Kaum sehen sich die beiden ist’s auch schon passiert: Wie ausgehungerte Wölfe fallen sie über einander her. Nun sind Liebesromane (sofern sich nicht im eigenen Leben gerade einer abspielt) doch auch recht banal – und so liest sich die Geschichte von Thomas und Senta zu Anfang auch. Doch Iris Hanika hat die Fäden ihrer Figuren zu souverän in der Hand, um das nicht zu bemerken und schon nach kurzer Zeit bemerkt der Leser die Ironie der Erzählerin ihren Figuren gegenüber. Der Roman führt dabei vor, wie sich die emotionellen Wogen inmitten von Zitaten bewegen, wie sehr die Formen des Begehrens und Liebens schon ausgeleiert sind. Der Text ist dabei mit Zitaten aus Popkultur und Hochliteratur sowie formalen Brüchen gespickt, durch welche die Zuckergusshandlung ironisch konterkariert wird. Ein lehrreiches Buch, nicht nur für Verliebte ! TJ

Veröffentlicht in PROGRESS 3/08

Ein Stückchen Heimat

Bei Studierenden aus dem Ausland stellt sich schon mal die Sehnsucht nach der eigenen Sprache und Kultur ein. Eine Möglichkeit, sich ein Stückchen Heimat in der Fremde zu bewahren ist der Kontakt zu nationalen Studierendenvereinen.

Wo gibt es ein richtig schönes Vappu-Fest? In welchem Lokal kann man Syrtaki tanzen und wo kann man in Wien ein ganzes Osterlamm grillen? Welche Musik ist in Luxemburg gerade richtig angesagt? Fragen, die durchschnittliche österreichische StudentInnen weniger beschäftigen, können für KollegInnen aus dem Ausland durchaus bedeutsam sein. Denn von den ca. 260 000 StudentInnen in ö–sterreich kommen etwa 50 000 aus dem Ausland, 90% davon aus Europa. Einige hundert Kilometer von Zuhause entfernt stellt sich mitunter schon Heimweh ein. Dem können nationale Studierendenvereine, die auch in der „Fremde“ eine Plattform für Kultur und Sprache des Heimatlandes bieten, abhelfen.

Ein Beispiel für solch einen Verein ist SEFEV (Verein griechischer Studenten und Akademiker Wiens). Als in Griechenland 1967 das Militär die Macht ergriff änderte sich dort auch für junge Menschen viel: Wer politisch nicht opportun war, wurde vom Zugang zu Universitäten ausgeschlossen oder gar verfolgt. Deshalb gingen Anfang der 1970er Jahre viele junge GriechInnen ins Ausland, um studieren zu können. Damals war Wien eines der beliebtesten Studienziele und es bildete sich eine lebhafte griechische Community. 1969 wurde schließlich der Verein SEFEV gegründet, um Studierenden und AkademikerInnen eine Plattform zum Austausch zu bieten – aber auch um die oft als großen Verlust empfundene Distanz zur Heimat zu überbrücken.

Vielfalt kennzeichnet die Vereinslandschaft für internationale Studierende heute. Zu den ältesten Vereinen zählt neben SEFEV der 1975 von Luxemburgischen Studierenden gegründete „Letzebuerger Studentenclub Wien“ und der 1978 gegründete finnische Verein WIESO. Auch in Linz, Graz und Innsbruck gibt es ähnliche Vereine. Der Austausch von Studierenden gleicher Herkunft findet auch über Mailinglisten statt, oder in Einrichtungen wie dem Afro-Asiatischen-Institut Wien.

Die Aktivitäten der Vereine sind äußerst vielfältig. Wie Niki Papadopoulou von SEFEV sagt, versucht ihr Verein „ein Netzwerk für Griechen zu bilden, die nach ö–sterreich kommen um zu studieren“. Geboten wird den Mitgliedern von Tipps zum Studium, über ein schwarzes Brett und Fahrgemeinschaften bis hin zu Partys und landesüblichen Festen so einiges. Serge Reuter vom Letzebuerger Studentenclub erklärt: „Viele Aktivitäten sind traditionell und werden jedes Jahr um etwa die gleiche Zeit organisiert, zum Beispiel die Studententaufe der Erstsemestrigen oder im Mai unser Sau-Fest auf der Donauinsel bei dem wir einen Grillplatz mieten und den ganzen Tag zusammen dort verbringen. Dazwischen gibt es dann immer wieder kleinere Aktivitäten.“ Die Vereine bieten auch Infos, die von anderen Vereinen oder den offiziellen Vertretungen der Heimatländer bereit gestellt werden.

Die Motivation sich mit KollegInnen aus der Heimat zu treffen hat nichts mit plumpem Nationalismus zu tun. Wie Serge betont, finden es viele StudentInnen „trotz der gewollten oder ungewollten Distanz zum Leben in Luxemburg, es in gewissen Sinne schön, ein Stück Heimat, und sei es nur, dass jemand mit ihnen Luxemburgisch sprechen kann, bei sich zu haben und sich dann trotz allem nicht so verloren zu fühlen.“ Niki, die binational aufgewachsen ist, beschreibt: „Für mein inneres Gleichgewicht meiner beiden Identitäten ist es wichtig, dass die österreichische Seite nicht überdimensional wird. Mit meiner Vereinstätigkeit kann ich meine griechische Identität ausleben und schauen, dass ich die griechische Sprache wenigstens ein bißchen pflege.“ Natürlich gibt es auch KollegInnen, die nicht das Bedürfnis haben sich im Ausland intensiver mit ihrer Heimat zu beschäftigen. Da reichen dann einfach Email und ein paar Freunde, mit denen man sich trifft. Denn letztlich kann man sich, wie Serge betont “ dann doch nie komplett von der Heimat lösen.“

Timon Jakli studiert Germanistik in Wien

Weblinks:
http://www.sefev.at
http://www.lsw.lu
http://www.finland.at/
http://www.aai-wien.at

Veröffentlicht in PROGRESS 2/08, S. 11

Der ganz normale Wahnsinn

Im Normalfall sind Bücher, die im Verlagstext mit „ö„hnlichkeiten mit lebenden Personen und tatsächlichen Ereignissen sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt“ angekündigt werden ja verdächtig. In der Tat erzählt Anette Pehnt in ihrem Roman Mobbing eine Geschichte, wie sie wohl jeden Tag im gleichgeschalteten Büroalltag passiert: Joachim, ein Angestellter einer Stadtverwaltung im besten Alter, wird fristlos entlassen. Die Vorstadtfamilienidylle (Frau, 2 Kinder, Haus im Grünen) bricht jäh ab. Langsam erfahren die LeserInnen, wie es dazu kam. Eine neue Chefin mobbte Joachim systematisch aus seiner Position, die ehemals befreundeten Arbeitskollegen werden zu Spitzeln. Alte Bindungen brechen auseinander, überall begegnet Joachim Misstrauen und Argwohn. Den Grund dafür erfahren die LeserInnen bis zum Schluss nicht.
Büroalltag gibt nun nicht gerade den spannendste Romanstoff her. Anette Pehnt erzählt die Geschichte jedoch höchst raffiniert und baut ihr damit einen doppelten Boden ein. Die Ereignisse werden nicht aus Joachims Sicht geschildert, sondern ausschließlich aus der Sicht seiner (namenlosen) Frau. So kommt nicht nur der Verlust der Arbeitsstelle in den Blick, sondern auch ihre subtilen Auswirkungen auf die Privatheit der Familie. Das Misstrauen zieht sich förmlich in die persönlichen Beziehungen hinein. Die Abgründigkeit Pehnts plätschernder Prosa erschließt sich im oft verwendeten Konjunktiv – in ihm kondensiert die Angst vor der Zukunft, die Ungewissheit und das zaghafte Ausloten von Möglichkeiten der Protagonisten. In Mobbing schildert Pehnt sicher keine progressives Frauen- und Familienbild, sicher aber den ganz normalen Wahnsinn bürgerlicher Normalität. TJ

Veröffentlicht in Progress 1/08, S. 21

Weniger ist mehr?

Hinter dem Asylgerichtshof steckte ursprünglich die simple Idee, schnellere Asylverfahren zu ermöglichen. Was SPö– und ö–VP Anfang Dezember des Vorjahres gegen die Stimmen der Opposition beschlossen haben, bedroht einen Grundpfeiler jeder Demokratie: Rechtsschutz für Individuen.

Es ist paradigmatisch für die momentane politische Situation: Beim Versuch die Webseite des Unabhängigen Bundesasylsenats [UBAS] aufzurufen, findet man/frau eine Baustelle vor. Aber: „Neue Informationen und Inhalte werden in naher Zukunft verfügbar sein. Viel Zeit bleibt nicht mehr dafür, immerhin soll der Asylgerichtshof noch heuer seine Tätigkeit aufnehmen und den UBAS ablösen.
The future is now! Im Sommer 2005 beschlossen ö–VP und BZö– umfangreiche ö„nderungen im Asyl- und Fremdenrecht. Gleichzeitig stimmte die SPö– der Einrichtung eines Asylgerichtshofes [AsylGH] zu. Damit sollten Missstände, wie jahrelange Wartezeiten in Asylverfahren und die völlige öœberlastung der zuständigen Stellen, beseitigt werden. Durch die Stimmen der SPö– war der Weg zu einer dafür notwendigen Verfassungsänderung offen. Die Debatten zog sich jedoch hin, erst 2007 war das Thema durch die Diskussionen um binationale Ehepaare, den Fall Arigona und die Schengenerweiterung medial öfter präsent. Im Zuge der Regierungsneubildung kam das Thema wieder auf den Tisch, bis schließlich im Herbst ein Gesetzesentwurf vorlag. Am 5. Dezember 2007 wurde das Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz mit den Stimmen von SPö– und ö–VP, gegen die gesamte Opposition, beschlossen. Demgemäß soll der AsylGH ab 1. Juli 2008 im Amt sein.
Was ist neu? Bisher reichten AsylwerberInnen einen Asylantrag beim Bundesasylamt ein, gegen einen negativen Bescheid konnten sie beim UBAS als 2. Instanz Beschwerde einlegen. Danach stand den AsylwerberInnen noch eine Beschwerde beim VwGH als 3. Instanz (seltener beim VfGH) offen. Beim VwGH sammelten sich so tausende Beschwerden gegen negative Bescheide an, was durch die Einrichtung des AsylGH gelöst werden soll. Der AsylGH ähnelt in seiner Struktur als auch seinen Kompetenzen dem UBAS. Gravierende ö„nderungen ergeben sich jedoch für die Verfahren selbst. Bei Entscheidungen des AsylGH, die von der bisherigen Rechtssprechung abweichen bzw. wo diese fehlt, können (wie früher) Grundsatzentscheidungen getroffen werden – zum Beispiel ob der Konflikt in Tschetschenien als Krieg oder als Bürgerkrieg eingestuft wird. In letzterem Fall müssten AsylwerberInnen eine Individualverfolgung nachweisen. Neu ist, dass das Innenministerium solche Entscheidungen beantragen darf – AsylwerberInnen haben diese Möglichkeit nicht. Grundsatzentscheidungen müssen dem VwGH zur Begutachtung vorgelegt werden. Trifft dieser innerhalb von 6 Monaten keine Entscheidung gilt sie als bestätigt. In allen übrigen Fällen, bei denen es sich nicht um eine Grundsatzentscheidung handelt, ist für AsylwerberInnen der Zug vor den VwGH als 3. Instanz ausgeschlossen. Ihnen bleibt in seltenen Fällen nur der Gang vor den VfGH als Rechtsmittel übrig.
Das Verfassungsprinzip der Rechtsstaatlichkeit garantiert unter anderem den Rechtsschutz des Einzelnen. Diesen sehen manche durch den Wegfall der Zuständigkeit des VwGH als 3. Instanz gefährdet. In den Rechtfertigungen der Regierungsparteien kommt es indes zu kuriosen Kombinationen, wenn Josef Cap unisono mit Wolfgang Schüssel „mehr Rechtsschutz“ für AsylwerberInnen und schnellere Verfahren hervorhebt. Der Verfassungsrechtler Heinz Mayer spricht hingegen von einem “ gewaltigen Fußtritt für den Rechtsstaat“, die Richtervereinigung von einer „Schande für die Republik“. Die Grünen kritisieren heftig, dass ohne Begutachtung ein solch folgenschwerer Eingriff in die Verfassung durchgeführt wurde. NGOs bemängeln ebenfalls den fehlenden Begutachtungszeitraum und den völligen Ausschluss der Expertise von Fachleuten und sprechen von einem „Rechtsschutz zweiter Klasse für Asylverfahren“.
Weniger=Mehr? Abseits aller Diskussion geht es aber um Hilfe suchende Menschen, wie Caritas und Diakonie betonen. Asyl kann von Menschen beantragt werden, die aus Kriegsgebieten kommen oder die aufgrund ihrer Rasse, Religion oder politischen Gesinnung verfolgt werden – Flüchtlinge, deren Leben in Gefahr ist. Und da kann „jedes Fehlurteil Menschenleben kosten“.

Timon Jakli studiert Germanistik in Wien

Weblink: http://asyl.at/fakten_1/stellungnahme_asylgerichtshof_25_11_07.pdf

Veröffentlicht in Progress 1/08, S. 16