Diskussionsstoff

Einen Beitrag zum Diskurs um das Schweigen des Papstes während des Holocaust leistet der amerikanische Historiker Josö© Sanchez mit seiner Analyse Pius XII und der Holocaust. Anatomie einer Debatte (€ 14.30, Schöningh Verlag). Sanchez grenzt unter Einbeziehung zahlreicher Primärquellen die wichtigsten Problemfelder des Themas ab und liefert gleichzeitig einen kritischen öœberblick über bestehende Sekundärliteratur, wobei er Pius als zwischen seinen Funktionen als Diplomat und Kirchenoberhaupt sowie als moralische Instanz zerrissen sieht. Nicht nur, dass Sanchez formal sehr gründlich vorgeht (verwiesen sei hier auf die gute Bibliographie), was den spezifischen Wert seiner Analyse ausmacht. jakli

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Veröffentlicht im STANDARD vom 08.11.2003

Assassinen

Obschon vor über 30 Jahren im Angesicht des RAF-Terrors geschrieben, kommt Alexander Gieses Roman Tigersöhne (Edition Doppelpunkt) heute erneut erschütternde Aktualität zu. Giese bezieht seine Handlung aus einer alten arabischen Legende: Im 11. Jahrhundert gehen drei ehemalige Studienfreunde getrennte Wege – Abdul wird Wesir, Hassan aber Anführer einer Sekte von Assassinen, die Knaben rauben und sie zu Attentätern erziehen. Dazwischen Omar, Astronom und Wissenschaftler, der durch sein bedingungsloses Bekenntnis zu Gewaltlosigkeit und Humanität zwischen beiden steht. Spannend, wenn auch mit einigen Längen, erzählt Giese seine Geschichte und appelliert durch die Figur des Omar, nicht vorschnell zu urteilen, sondern das Unbegreifliche des Terrors zu hinterfragen. TJ

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Veröffentlicht im STANDARD vom 20.9.2003

Gehülfe

Zum 125. Geburtstag Robert Walsers legte der Suhrkamp Verlag die Werke des Schweizer Autors in Sondereditionen neu auf; darunter auch Walsers autobiographischer Roman Der Gehülfe, in dem er die Erlebnisse des Bürogehilfen Joseph Marti schildert. Dieser begibt sich in den Dienst des bürgerlichen Erfinders und Ingenieurs Tobler, der durch seinen extensiven Lebensstil den Niedergang seines Hausstandes einleitet. Mit fast manieristischer Sprachverliebtheit beschreibt Walser diesen „Auszug aus dem schweizerischen täglichen Leben“ und erzählt dabei ohne große Abweichungen seine eigenen Jugenderlebnisse als ‚Gehülfe’. Gleichzeitig macht er damit die Ambiguität bürgerlicher Identität am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sichtbar. TJ

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Veröffentlicht im STANDARD vom 19.7.2003

Pyrenäen

Diese Woche durchquert die Tour de France einen ihrer wohl spannendsten und herausforderndsten Abschnitte: Die Pyrenäenetappe. Nun ist die von dem Gebirgszug ausgehende Faszination kein Novum – so beschäftigte sich bereits Kurt Tucholsky in seinem 1927 erschienen Werk Ein Pyrenäenbuch (rororo) damit. Anschaulich und mit spitzem Humor schildert Tucholsky die einzigartige Landschaft der Pyrenäen, erzählt von seinen Erfahrungen in Lourdes und Andorra sowie mit den einheimischen Basken. Tucholsky schildert jedoch nicht gleichnishaft, sondern verleiht der Gegend ihre eigene suggestive Sprache. Mehr noch lädt der Autor den Leser auf eine „Reise durch sich selbst“ ein und ermuntert ihn „unter der abweichenden Form das Gemeinsame zu entdecken“. TJ

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Veröffentlicht im STANDARD vom 19.7.2003

Zentenarium

Dieses Jahr wäre George Orwell 100 Jahre alt geworden – Grund genug einen Blick auf das Werk des außergewöhnlichen Schriftstellers und Journalisten zu werfen. Als Wendepunkt seines Werkes sei hier Mein Katalonien (€ 11.30, Diogenes) empfohlen, Orwells Bericht über seine Erlebnisse in den Freiwilligenbrigaden des Spanischen Bürgerkriegs. Abgefasst in dem für Orwell charakteristischen schmucklosen Berichtstil, entfalten sich allmählich die für sein Leben bezeichnenden Probleme und Fragestellungen: Angefangen vom Erlebnis der von einer Vision beseelten sozialistischen Egalität im Krieg, über die totalitären Entartungen des Realsozialismus bis hin zur Schizophrenie des „doublethink“ finden sich bereits hier die Auseinandersetzungen, die letztlich in „1984“ kulminierten. TJ

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Veröffentlicht im STANDARD vom 28.6.2003

Museum

Man möchte meinen, eine vor über 40 Jahren herausgegebene Lyrikanthologie habe schon längst ihre Aktualität verloren. Eines Besseren belehrt das 1960 von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene und nun neu aufgelegte Museum der modernen Poesie (€ 19.80, Suhrkamp). Die Anthologie gibt dem Leser anhand von 351 Gedichten Einblick in die Dichtung der „klassischen Moderne“ und unterstreicht gleichzeitig die Heterogenität derselben. Enzensberger spricht von dem Museum als von einem „Ort der Hausforderung“ – einem Arbeitsmittel, das als Impetus für kreatives Denken und Assoziieren dienen soll. Dementsprechend sind die Texte nur lose geordnet und die Mehrsprachigkeit der Ausgabe ermöglicht paralleles Lesen von Original und öœbersetzung, was nicht zuletzt großes Lesevergnügen bereitet. TJ

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Veröffentlicht im STANDARD vom 21.6.2003

Brieffreundschaft

Bereits 1938 veröffentlichte Kressmann Taylor ihren kurzen Text Adressat unbekannt (€ 5.10, rororo) in der amerikanischen Zeitschrift Story. Angesiedelt zwischen Novelle und Briefroman, erzählt sie darin in 19 fiktiven Briefen die Geschichte zweier deutscher Männer in der Zeit von Hitlers Machtergreifung. Doch entwickelt sich deren Freundschaft stetig auseinander, da Max Jude ist, Martin aber mit nationalsozialistischem Gedankengut sympathisiert. Als sich Martin am Tod von Maxens Schwester mitschuldig macht, kommt es zum Eklat: Max beginnt sich zu rächen. Obzwar durch die Kürze des Textes die Handlung mitunter etwas gerafft erscheint, reflektiert das Buch die Korruption der Gesellschaft, aber auch die sprachliche Korruption des Einzelnen durch den Nazismus. TJ

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Veröffentlicht im STANDARD vom 31.5.2003

Heidelberg

Seine Heimatstadt Heidelberg hat Carlo Schäfer zum Mittelpunkt seines Romandebüts Im falschen Licht (€ 9,20, rororo) gemacht. Er erzählt die Geschichte eines Ermittlerteams der Polizei, das zusammen mit der Staatsanwältin Bahar Yildirim am Fall eines ermordeten Fälschers arbeitet, wobei sich eine verwinkelte Geschichte um Kunst und Intrigen entwickelt, die jedoch an vielen Punkten vorhersehbar und platt wirkt. Schäfer versucht seinen Roman und seine Figuren in groteskes Licht zu tauchen, scheitert dabei aber an seiner sprachlichen Unzulänglichkeit. Auch die von ihm gezeichneten Charaktere wirken zweidimensional und gehen nicht über klischeehafte Beschreibungen hinaus. Insofern ist auch die bisweilen aufkommende Spannung kein Trost. TJ

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Veröffentlicht im STANDARD vom 31.5.2003

Update: Herr Schäfer goutierte diese Rezension recht beleidigt mit einer faszinierend untergriffigen und unsachlichen Email. Auf die Veröffentlichung derselben an dieser Stelle reagierte er nochmals mit einer nicht weniger beleidigten, dafür mit einer Anwaltsdrohung bereicherten Email. Da meine finanziellen Mittel von einer Honorarzahlung an Herrn Schäfer überfordert wären, wurde der Text vorsorglich entfernt. Wer sich trotzdem von der Qualität der Schäferschen Poesie überzeugen möchte, dem sei www.carlo-schaefer.de ans Herz gelegt, wobei mir hier vor allem die Sparte „Lyrik“ sehr am Herzen liegt.

Mythos

Einer der „großen Erzählungen“ westlicher Kultur nimmt sich Franco Mimmi in seinem fünften Roman (Unser Agent in Judäa, € 8,80, Aufbau Taschenbuch) an, nämlich des Lebens von Jesus, dem Nazaräer. Im Spannungsfeld von Mythos und Realität fragt er eingangs unter Berufung auf ein Zitat von Michail Bulgakow: Wer kann sagen, was wahr ist ? – Der Mythos ? Oder die Erzählung ? Unter diesem Gesichtspunkt deutet Mimmi die Geschichte Jesu zu einem spannungsgeladenen Agentenroman voll politischer Intrigen um. Nicht nur, dass der Roman mit packender Sprache Eindrücke einer vergangenen Zeit vermittelt, stellt Mimmi auch die faszinierende Frage danach, wie sich das Leben Jesu wirklich zugetragen haben könnte und hinterfragt so den Wahrheitsgehalt des Bibelmythos. TJ

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Veröffentlicht im STANDARD vom 17.5.2003

Spaziergänge

In 30 Erzählungen schildert der 1920 in Polen geborene und später nach Israel emigrierte Jossel Birstein das Leben in Jerusalem zwischen Krieg und Alltag. Wie bereits im Titel Unterwegs in den Straßen von Jerusalem ( € 17,50, Arche) angedeutet, sind die Kurzgeschichten (in der Tat ist der Band mit „Erzählungen“ falsch betitelt) durchwegs als Spaziergänge durch die ewige Stadt angelegt, in denen der Autor gleichzeitig seine eigene Biographie durch den Ich-Erzähler entwickelt. Kaleidoskopartig ordnet er Bilder eines sich ständig in Bewegung befindlichen Jerusalem an, wobei Birsteins Sprache in der deutschen öœbersetzung nicht immer ausreicht, diese Bilder auch authentisch zu zeichnen. So bleiben viele Geschichten als singuläre Erinnerungen des Autors zurück. TJ

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Veröffentlicht im STANDARD vom 10.5.2003