34 Hektar Widerstand

Seit 35 Jahren besetzt ein bunter Mix aus Hippies, AnarchistInnen und Alternativen ein ehemaliges Militärgelände im Herzen Kopenhagens. Der Freistaat Christiania – eine Geschichte über Widerstand, Liberalismus und Integration.

Timon Jakli

Hippietum in Kopenhagen zwischen TouristInneninvasion und Polizeirazzia
Hippietum in Kopenhagen zwischen TouristInneninvasion und Polizeirazzia

Vormittags, wenn die Sonne auch die letzten Menschen aus den Betten getrieben hat, bevölkern sie die Straßen Christianias: Die Kamera vor den Bauch geschnallt und das Rucksäckchen gepackt, schlendern unzählige TouristInnen durch den Freistaat, um den „progressiven und freisinnigen dänischen Lebensstil“, so die Homepage der ChristianitterInnen, zu besichtigen. Grotesk mutet es an, wenn die BewohnerInnen fotografiert werden wie Tiere im Zoo, jedem/r sein/ihr Hippie für zu Hause – wenigstens am Photo. Bis wieder einmal jemand laut „no photo !“ durch die Straßen schreit und böse dreinschaut – dann werden die Kameras schuldbewusst weggepackt, für ein paar Minuten.
Diese Episode erzählt wohl mehr über die dänische Gesellschaft und die Integrationsfähigkeit des Kapitalismus, als es den BewohnerInnen des Freistaats lieb ist.

Die Vorgeschichte. Als 1971 Hippies und HausbesetzerInnen ein verlassenes Militärgelände im Stadtteil Christianshavn in Kopenhagen besetzten, sorgte dies in linksalternativen Kreisen und Zeitungen für Aufruhr. Eine große Zahl Menschen ließ sich auf dem Gebiet nieder und es entstand ein Staat mit Grassroot-Demokratie. Rasch kam es zu Konflikten mit der dänischen Regierung. In der ersten Phase (bis Ende der 70er) ging es vor allem um das Existenzrecht des Freistaates, von Regierungsseite wurde wiederholt versucht, das Gelände zu räumen. Anfang der 1980er Jahre begann die dänische Regierung, Pläne zu entwerfen, Christiania als Versuchsstadt unter Selbstverwaltung bestehen zu lassen, ein Prozess der bis zum Beginn der 1990er Jahre andauerte. Die Hauptkonfliktlinien verliefen in dieser Zeit um den Drogenkonsum/handel sowie Abgabenregelungen. Zum 20 jährigen Bestehen des Freistaates stand im wesentlichen eine Rahmenvereinbarung mit dem Staat Dänemark, die in den 90er Jahren weiter ausverhandelt wurde – die Institutionalisierung Christianias schritt voran. Die bürgerlich-konservative Regierung Dänemarks fährt seit 2001 einen härteren Kurs, indem sie beim Haschischbesitz mit großen Polizeiaktionen seit 2003 hart durchgreift sowie Normalisierungspläne für die Mietstruktur des Geländes entwickelt.

Integration und Institutionalisierung. Die Geschichte Christianas illustriert deutlich eine Tendenz spätkapitalistischer Gesellschaften: Die totale Integration widerständiger Elemente. Dänemark als klassisch liberaler Staat, geprägt von den Revolutionen des 18. Jahrhunderts und ihrer Idee bürgerlicher Freiheit, hat Individualität als großen Leitgedanken – nicht umsonst macht sich Design in allen öffentlichen und privaten Bereichen als Dekadenzerscheinung breit. Die Pseudoindividualitäten klopfen an alle Türen. Und als ebensolche wurde Christiana in das System integriert, fungiert als Designelement einer liberalen Gesellschaft, die durch das Zulassen einer Hippiekolonie im Herzen der Stadt ihre Offenheit zeigt und sich dadurch gleichzeitig als letztgültiger Garant der Freiheit weiter zementiert. Als eine von vielen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung innerhalb einer liberalen Gesellschaft, steht Alternativität genau so im Warenregal Dänemarks wie Tivoli und Tierpark. Dass darüber hinaus der politische Anspruch des Freistaates außen vor bleibt und sich in Kiffen und Kunsthandwerk erschöpft, ist Nebensache.

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien

Weblinks:
http://www.christiania.org

Copyright 2006 by Timon Jakli,
Veröffentlicht in PROGRESS 5/06, S. 15

Timon
Spracharbeiter. Kommunikator. Sprecher. Trainer. Historiker. Leidenschaftlicher Koch. Foodie.

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